Der Brenner und der liebe Gott
vierundsiebzig Stunden nach dem Verschwinden einfach die Zeit noch nicht reif. Weil du darfst eines nicht vergessen. Die Zone der Durchsichtigkeit zerreißt es nicht vor dem fünften Tag, sprich frühestens nach hundert Stunden.
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Zwischen der vierundsiebzigsten und der achtundachtzigsten Stunde hat der Brenner eine Eins-a-Ermittlung hingelegt, die nachher eigentlich nie richtig gewürdigt worden ist. Das ist alles erschlagen worden von dem Wahnsinn am folgenden Tag. Bei so einer Entwicklung ist es ganz klar, dass die Kleinarbeit untergeht. Der Hobel kann nicht jeden Span persönlich mit einer Dankesrede für die gute Mitarbeit verabschieden, und wenn ein Verbrechen einmal richtig eskaliert, wenn ein Mord von seinen kleinen Kindern, den Folgemorden, besucht wird, dann kann man einen Detektiv nicht für alles belobigen, was er richtig gemacht hat.
Aber weil alle so drüber hinweggegangen sind, möchte ich es zumindest kurz streifen. Ich muss sagen, großartig, wie der Brenner die Suche nach dem Jugomädchen eingeleitet hat. Nach der Sunny. Da ist er zu einer detektivischen Hochform aufgelaufen, wo man nur sagen kann, Hut ab.
Ich weiß auch nicht, irgendwie ist es ein Zug unserer Zeit, dass diese Dinge niemand mehr richtig würdigt. Die saubere Detektivarbeit, die polizeiliche Routine, das handwerkliche Können haben heute keinen Wert mehr. Sogar der Brenner selber hat sich nichts dabei gedacht oder gar später stolz darauf zurückgeblickt. Weil Handwerk selbstverständlich. Und irgendwie kann ich es auch verstehen, dass er sich nicht selber dafür auf die Schulter geklopft hat, wie er da in seiner Erschöpfung nach der Begegnung mit der Frau Doktor sofort an den einzigen Menschen gedacht hat, der ihm Zugang zur Jugoszene verschaffen könnte. Und wie er den frisch von der Tankstelle gefeuerten Milan daheim vor dem Fernseher aufgestöbert und mit dem SunnyFoto durch die Jugodiscos geschickt hat. Der Milan war ganz begeistert von seinem Auftrag. Nur auf die Frage vom Brenner, ob er ihm vielleicht eine Pistole besorgen könnte, hat er empfindlich reagiert. Dabei hat der Brenner es nicht böse gemeint, quasi, wer Bier schwarz verkauft, kann auch eine Waffe besorgen. Ihm war nur nicht mehr ganz wohl ohne Waffe, seit er den Knoll entdeckt hat. Aber das war auch der einzige Fehler, den er an diesem Tag gemacht hat, sonst alles eins a.
Dem Brenner ist es ja nachher genauso gegangen wie allen anderen, sprich, was ihm noch in derselben Nacht passiert ist, hat alles andere ausradiert. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Weil siebenundsiebzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat er den Milan beauftragt, und achtundsiebzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat er schon zwei Liter durchsichtigen Schrebergartenkaffee im Magen, ein halbes Kilo Staubzucker im Blut und zwanzig Schrebergartenskandale im Brummschädel gehabt, aber eben auch die Erklärung, warum der Knoll diese Hütte gekauft hat. Ob du es glaubst oder nicht, sein Anwalt hat fünf Minuten nach dem Hüttenkauf einen Anrainer-Einspruch gegen das
Riesenland-Projekt
eingereicht, sprich sofortiger Baustopp.
Achtzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat sich der Brenner in einer Apotheke Kopfwehtabletten gekauft, und sobald es wieder ein bisschen gegangen ist, hat er keine einundachtzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena mit verstellter Stimme beim Kressdorf angerufen und sich als Journalist ausgegeben, der etwas über den
Riesenland-Baustopp
wissen will. Aber interessant. Der Kressdorf war überhaupt nicht beeindruckt und sehr zuversichtlich, dass der Einspruch nicht lange halten wird.
Mehr hat er vom Kressdorf nicht herausgekriegt, und ich muss sagen, zum Glück. Weil sonst hätte der Brenner vielleicht gar nicht mehr aus der Frustration heraus die Kraft aufgebracht, dass er die Natalie auch noch anruft. Und von der Natalie hat er dann wirklich etwas erfahren. Oder besser gesagt, von einer Flammenschrift. Aber jetzt pass auf.
Dreiundachtzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat er die Natalie zu einem Treffen überredet. Zuerst hat sie noch steif und fest behauptet, sie kann sich auch nicht erklären, wieso die Frau Doktor die Telefonnummer vom Obersenatsrat Stachl gehabt hat. Das muss sie sich natürlich auch nicht erklären können, das stimmt schon. Aber wieso wird die Natalie, während sie das sagt, so rot im Gesicht wie ein schüchternes Mädchen, das zum ersten Mal im Leben lügt?
»Die
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