Der Briefwechsel
»soviel Rätsel als dem Rätselliebhaber willkommen und bemühe sich, »bedeutend und deutungslos« zu sein. Klar und labyrinthisch, konkret und fabelhaft sind in Handkes Märchen Länder und Kontinente, Landschaften, die Weltlandschaften sind. Die vier Personen, der Alte, die Frau, der Soldat und der Spieler, bewegen sich in einer Art Phantasie-Topographie durch Kontinente und Zeiten. Sie sind aus dem Alltag aufgebrochen, ausgewandert, sie haben Grenzen überschritten, sie folgen ihrer Sehnsucht, »im Unterwegssein zu Hause zu sein« zu wollen. Sie befinden sich in einer Abwesenheit, die ein Innewerden und Wiederkommen in sich schließt. In den Unterhaltungen der vier, in ihren Aussprachen, Ansprachen, Ausbrüchen, Erwiderungen, Selbstgesprächen und Traumvisionen explizieren sie ihre eigene Geschichte; so »machen« sie das Märchen, seine Stille und »Unstille«.
Die Personen bilden eine Gruppe, die sich in der Art Parzivals bewegt, wie ein Zug, wie eine Prozession, plötzlich ist eine Lichtung da, eine Stadt, eine Wüste, ein Meer. Wie Parzival folgen auch diese vier einer Sehnsucht, die sich an der Kraft der kleinen Orte erfüllt. »Und was will meine Sehnsucht? Nichts als Besänftigung.«
Eines Tages ist der Alte, der der Gruppe Orientierung gab, verschwunden, es bleibt nur noch eine »Sitzspur«, aber es bleibt der Traum, diesen Mentor wiederzufinden, auch sein Merkbuch, das gemeinsame Entziffern der eingetragenen Zeichen würde zum aufregenden Abenteuer.
»Die Abwesenheit« ist ein hermetisches Buch. Dabei ist seine Sprache kristallinisch klar, höchstentwickelt, durchgebildet, das beschriebene Detail überdeutlich. Handkes Prozeß des Schreibens, des Entzifferns und Lesens ist ein Weg zu einer immer klareren Sprache, die in der Welt der
538 Wüste und Verwüstungen, der Welt unserer Bedrohungen und Gefahren zum Rettungsweg wird.
1
S. U. reiste am 19. Juni 1987 nach Asolo; Hermann Lenz nahm an diesem Tag in der Villa Emo in Fanzolo den Petrarca-Preis entgegen. Die Laudatio hielt Peter Hamm.
[433; handschriftlich]
[Salzburg]
11. Mai 1987
Lieber Siegfried,
ich möchte Dir meine Freude über Deinen Ankündigungstext sagen; ich habe ihn mehrmals gelesen. Ich habe auch tatsächlich während der »Abwesenheit« immer wieder an die Unterhaltungen von Ausgewanderten (und der Goethe'schen) gedacht. Vielleicht könnte man in die Zeile: »… es bleibt nur noch eine ›Sitzspur‹, aber es bleibt der Traum, diesen Mentor wiederzufinden …« mit dem zweimaligen »bleibt« etwas verändern? Und ist »Die Abwesenheit« wirklich »ein hermetisches Buch«? Ich würde sie eher ein reales Märchen nennen, ein Märchen der Realität, oder Deutung der Realität in Märchenform. Ich habe in den Fahnen eine Art Lichtungs-Arbeit betrieben und so, meine ich, eine bessere Zugänglichkeit ermöglicht, ohne etwas zu verraten (an der Geschichte ist nichts zu verraten). Ich bin jetzt sehr froh mit der Sache; mir kommt sie als das Innigste und Weiträumigste vor, das Schwerste und zugleich Leichteste, was ich je geschrieben habe. – Na, und nun bedachtsam weiter. Ich lese mit großer Begeisterung die Nō-Spiele, die bei Insel erschienen sind; danach kommt mir Shakespeare in vielem etwas pueril vor. 1 – Heute nacht träumte ich von uns beiden; wir gingen eine lange,
539 sachte Steintreppe empor, und ein Entgegenkommender sagte, Du solltest auf Deine Gesundheit mehr achten. Ich antwortete, das tätest Du bereits, indem Du so mit mir langsam bergan stiegest.
Herzlich,
Dein Peter
[Quer an der linken Seite des Briefes] Darf ich für die Finanzabteilung den Wisch dazulegen? Sie hat ihn von mir gefordert.
1
Vierundzwanzig Nō-Spiele . Ausgewählt und aus dem Japanischen übertragen von Peter Weber-Schäfer, erschien im Insel Verlag 1986 in einer zweiten Auflage (erste Auflage 1961).
[434; Anschrift: Salzburg]
Frankfurt am Main
27. Mai 1987
Lieber Peter,
hab herzlichen Dank für Deinen Brief vom 11. Mai. Ich bin sehr froh, daß Du dem Ankündigungstext zustimmen kannst. Selbstverständlich haben wir die kleine Änderung eingebracht.
Anbei der Umschlag-Entwurf für »Die Abwesenheit«. Gefällt er Dir in dieser Form? 1
Ich höre, Du seiest in Paris, wohl auf der Wohnungssuche? Wir sollten einmal miteinander telefonieren, wenn Du wieder zurück bist.
Herzliche Grüße
Dein
[Siegfried Unseld]
1
540 P. H., Die Abwesenheit. Ein Märchen , erschien am 25. August 1987.
[435; handschriftlich; Ansichtskarte:
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