Der Briefwechsel
profundis
Peter
[519; Anschrift: Chaville]
Frankfurt am Main
25. März 1994
Lieber Peter,
hab Dank für Deinen Brief vom 21. März. Ich verstehe nur zu gut, daß für Dich nicht mehr als 12 Seiten täglich zu bedenken sind. Du hast Dich damals gewundert, daß Fellinger und ich so lange zum Lesen brauchten. Ich wünsche Dir sehr, daß Du den Gang durch das Ganze letztlich schaffen kannst. Ich bin eher erschrocken, daß Du soviel Seiten »wegkriegen« willst; ich glaube, kein Leser des Manuskripts hätte den Mut gehabt, Dir Streichungen dieses Umfangs vorzuschlagen. Ich muß Dir sagen, ich am allerwenigsten – war und bin ich doch von dieser Dichtung und ihrem Panorama fasziniert.
Offensichtlich hast Du die Idee einer Besprechung auch mit Dritten aufgegeben; ich glaube, sie wäre auch kompliziert geworden, denn auch hier steckt der Liebe Gott im Detail, und mit zwei, drei Tagen allein wäre das ja wohl nicht zu schaffen. Und ist es letztlich nicht auch so, daß Du, so fassungslos Dich dies macht, diese Arbeit allein entscheiden, machen und schreiben mußt?
Ich erwarte also bis zum 15. April die beiden ersten Teile, wir werden sofort darauf reagieren.
631 Ich bin sehr froh, daß Du den Untertitel wieder eingefügt hast. Er gehört konstitutiv zum Buch.
In der kommenden Woche werde ich nach Mexico fliegen, um bei Octavio Paz' 80. Geburtstag zu sein; danach wollen Ulla und ich über Ostern zum Schwimmen gehen und dann über New York und Chicago zurückreisen. Nach Plan werde ich am Montag, dem 11. April, wieder zurück sein. 1
Lieber Peter, es tut mir weh, daß ich in dieser Situation Dir nicht mehr helfen kann, ich hätte es gerne getan. Sei sicher, daß ich auf Dein Buch baue, ihm vertraue, und ich bin sicher, daß es große Wirkung haben wird.
Herzliche Grüße
[Siegfried Unseld]
1
Die Reise nach Mexico kam nicht zustande; zwischen dem 8. und 12. April hielten sich Ulla Berkéwicz und S. U. in New York und Chicago auf.
[520; handschriftlich; Ansichtskarte: »Telefonisti s plinskimi maskami v jarkih Vojna v Posočju 1915-1917«]
[Chaville]
5. April 1994
Lieber Siegfried,
jetzt gibt es, mit den Korrekturen, doch eine Handschrift, eine seltsame. Ich schicke heute etwa die Hälfte ab. Die andere um den 5. Mai. Es geht nun besser, und ich habe sogar manchmal einen Genuß am Lichten. Für die beiden letzten Teile soll es weniger werden. Gute Rückkehr aus Mexico wünscht
Peter
(Vielleicht werden insgesamt von den 800 etwa 160 Seiten wegfallen.)
632 [521; handschriftlich; Briefpapier Sonnenhof Königstein]
8. Juni 1994
Lieber Siegfried,
gestern habe ich den Vorschau-Text zu Gesicht bekommen. 1 Die ganze Vorschau soll in diesen Tagen erscheinen, und was zu meinem Buch da steht, ist, wie es aussieht, nicht mehr rückgängig zu machen.
Daß die Ankündigung zu »Mein Jahr in der Niemandsbucht« schauderhaft ist, das ist das eine. Alles, was ich unbedingt vermeiden wollte – daß gesagt würde: »groß«, »großes Werk«, »großes Epos« … – steht nun großkotzig da. Und Blödsinn und Fehler und Verfälschung. Und zuletzt noch ca. 3-4 × in einem Satz »neu«, »neuartig« …
Das ist das eine. Das andere: daß mir der Text vorher nicht gezeigt wurde. Ein Wort wie »ungeheuerlich«, einmal trifft das zu. Der Humor geht mir aus. Ich hab's eine Nacht überschlafen (?), aber der Hammer wird nicht leichter.
Der, dessen Manuskripte, mit Bleistift geschrieben, was in der heutigen Zeit nicht mehr geht, keine Satzvorlage sind (bitte, also die »Keine-Satzvorlage-Bleistift-Manuskripte« von »Versuch über die Müdigkeit« und »Versuch über die Jukebox« an deren gestrigen Schreiber zurück)
[Anlage; handschriftlich; Klappentext]
Eine waldige Vorstadtgegend. Ein Jahrzehnt dort. Dann das Jahr. Sieben ferne Freunde. Eine verschwundene Frau. Wer? Wer nicht? Wo? Wo nicht? Der Bahnhofsplatz mit dem Baum, worin die Vögel schlafen. Die Bar der Reisenden. Die Jahreszeiten. Die Pilze. Die Wanderarbeiter. Die Nachbarn. Die Grillen. Kriege, Vulkanausbruch, heiße Quellen. Ein Steinmetz aus dem Mittelalter. Ein kleinlicher Prophet. Das Kind namens Vladimir. Die Fabel vom Lärmmacher,
633 der gesteinigt wird von den Ureinwohnern. Die blaue russische Kirche am Waldrand. Und dann das Wiedersehensfest mit den Freunden in einer Winterrauhnacht kurz vor dem neuen Jahr.
Peter Handke
[8. 6. 1994]
Klappentext zu
Mein Jahr in der Niemandsbucht
[8. 6. 1994]
[handschriftlicher
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