Der Briefwechsel
Zusatz von P. H. auf der Rückseite des Briefcouverts]
P. S.: 13.10 h, Ffm. Hbf:
Gerade höre ich von R. F. Deinen Grund für Dein-mich-übergehen: »Es muß gehandelt werden! Es müssen Entscheidungen getroffen werden!« – Und so muß ich den Brief abschicken. P.
1
P. H. wohnte auf dem Weg nach Weimar, wo Helmut Färber den Petrarca-Preis erhielt (Laudatio: P. H.) – zwischen dem 6. und 8. Juni 1994 im Hotel Sonnenhof in Königstein. In der Chronik notierte S. U. unter dem Datum des 6. Juni 1994: »Am Spätnachmittag Treffen mit Peter Handke. Wir fahren nach Kronberg, da er im ›Sonnenhof‹ übernachtet, kurzer Spaziergang. Dann ein fast vierstündiges ›Essen‹. Es ist schwierig mit ihm. Er verträgt immer weniger Widerspruch. Wir diskutieren den Umschlag, den Satzspiegel, das Buchformat, den Ladenpreis, mitten in der Unterhaltung dann wieder sein Zweifel, ob wir das Buch überhaupt bringen sollen, bringen wollen.« Der in der Programmvorschau des Suhrkamp Verlags für das zweite Halbjahr 1994 abgedruckte Text hatte folgenden Wortlaut: »In seinem großen, neuen, bisher umfangreichsten, weit in die Kontinente und zugleich in die abseits gelegenen Orte ausgreifenden Werk erzählt Peter Handke vom Leben und Schreiben, Lassen und Tun des 56jährigen Schriftstellers Gregor Keuschnig am Ausgang dieses Jahrhunderts. Er
634 erzählt, in weitausholendem epischen Rhythmus, warum dieser »Schreiber«, allein, in einem kleinen Vorort nahe Paris, in der ›hintersten, verstecktesten, am wenigsten zugänglichen Bucht des Weltstadtmeers‹, gestrandet ist. Er erzählt, wie Gregor Keuschnig eine Familie gründete, doch sein von Kindheit an ihn beherrschender Wunsch, allein zu sein, zur Trennung von Frau und Sohn führte, und welche abträglichen Folgen dieser Wunsch auch für seine Freundschaften hatte. Nur sieben ferne Freunde sind ihm geblieben. Was diese in dem Jahr tun, in dem der Schreiber sein Vorhaben – seine Erkundungen des ihm gemäßen Wohnorts zu Papier zu bringen – ausführt, erzählt Peter Handke: Er folgt dem Sänger Emmanuel durch das schottische Hochland, er begleitet den Maler Francisco durch die Städte Nordspaniens, er kennt die Geschichte des Kärntner Pfarrers Pavel ebenso wie die des Deutschland erkundenden Lesers Wilhelm; er begleitet den Architekten Guido durch Japan und seine Freundin Helena an der türkischen Mittelmeerküste; er verfolgt den Weg seines Sohnes Valentin quer durch das ehemalige Jugoslawien nach Griechenland. Die Geschichten der Freunde Gregor Keuschnigs werden von Peter Handke ebenso überraschend wie einleuchtend, ebenso kunstvoll wie zwanglos mit der Chronik der Ereignisse im Leben des in Südkärnten geborenen Gregor Keuschnig verbunden. So ist zu erfahren, weshalb dieser das Schreiben zu seinem Beruf wählte, dem einzigen, ›für den ich, wenn überhaupt für einen, halbwegs gemacht bin‹. Indem Peter Handke sich in den anderen Schreiber hineinversetzt, entfaltet er, Erzählsatz nach Erzählsatz, die Grundüberzeugungen dieses Schriftstellers, dessen Vorstellungen vom Schreiben, erzählt von dessen Büchern und Buchprojekten, von seiner ›Verwandlung‹, in der buchstäblich seine Existenz auf dem Spiel stand, seiner Auffassung von Geschichte und Geschichten – von den Erfahrungen, die ihn in seine abgelegene Bucht führten. Peter Handkes großes Epos verknüpft so das Allgemeine mit dem Besonderen, verbindet die vielstimmigen und vielgestaltigen, teils grotesken teils ernst gestimmten Erzählungen zu einem großen Erzählkosmos, in dem das Nächste sich im Fernsten spiegelt, in dem sich eine ›neue Welt‹ eröffnet – ›Es ist einfach das Alltägliche, das ich als die neue Welt sehe‹. Und dieses neue Sehen, das Neu-Sehen des angeblich bereits Bekannten, ist bei Peter Handkes Märchen aus den neuen Zeiten Wort für Wort und Satz
635 um Satz zu lernen. Etwa, weitere Geschichte in der Geschichte, in jenem Bericht über Gregor Keuschnig, der Tag für Tag, im Gartenzimmer seines Hauses oder in den Wäldern der Umgebung, seine Erfahrungen während eines Jahres niederschreibt. Durch diese Niederschrift will er sich erneut verwandeln, sich öffnen, für die anderen, für die Welt. In solcher Form führt dieses neuartige Märchen aus 365 und einem Tag, diese Reise um die Welt und durch einen Ort am Rande ins Zentrum unseres Lebens – fordert es uns, durch die sanfte und nachhaltige Kraft des Erzählens auf: ›Erkenne dich selbst‹, ›Verwandle
Weitere Kostenlose Bücher