Der Briefwechsel
interessieren. Etwa die Beantwortung der Fragen:
a)
Siehst Du in einer generellen Kleinschreibung einen Fortschritt in der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse?
b)
Kannst Du Dir vorstellen, unsere Klassiker in neuen Editionen mit kleingeschriebener Schrift lesen zu können, Goethe und Marx in Kleinschreibung also?
c)
Würdest Du Dich selbst im Falle des Beschlusses der Kultusministerkonferenz dazu motivieren lassen, in Zukunft nur noch kleine Buchstaben zu verwenden?
d)
Kannst Du Dir in der Reform einen Kompromiß vorstellen: es werden außer den Namen alle klar erkennbaren Substantive und substantivierten Verben groß geschrieben, alle Zweifelsfälle jedoch klein. Als weiteren Kompromiß könnte man sich vorstellen, daß man jedoch in der Rechtschreibung, nicht aber in der Groß- und Kleinschreibung Noten gibt.
236 Ich wäre Dir für eine Stellungnahme sehr dankbar. 1
Mit freundlichen Grüßen
Dein
[Siegfried Unseld]
1
S. U. sandte diesen Brief an 60 Autoren des Verlags, von denen 45 antworteten. S. U. hielt am 5. Oktober 1973 auf dem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft veranstalteten Kongreß »vernünftiger schreiben. Reform der Rechtschreibung« eine Rede. Sie wurde gedruckt unter dem Titel Großschreibung oder kleinschreibung? Plädoyer zu einem Denkproblem , in: Großschreibung oder kleinschreibung? Meinungen zu einem umstrittenen Thema , Frankfurt am Main 1974, S. 39-63.
[189; handschriftlich]
[Kronberg]
8. September 1973
Lieber Siegfried,
ich muß gestehen, daß ich wenig über die Kleinschreibung nachgedacht habe, obwohl ich schon einige Briefe zu dem Problem bekommen habe. Ich habe auf keinen was antworten können.
Ein Problem ist es. Das Argument der Benachteiligung Unterprivilegierter trifft schon, aber zu pauschal. Das meiste an der Großschreibung ist Pedanterie. Andererseits schärft sie sicher die Unterscheidungsfähigkeit in bezug auf Hauptwörter und ist insofern eine Denkhilfe. Man müßte sie wahrscheinlich auf Substantive und Eigennamen beschränken. Das wäre mir am sympathischsten. (Goethe und Marx könnte ich mir auch kleingeschrieben vorstellen; freilich – s. o.)
Ruf doch einmal an.
Herzlich,
Dein Peter
237 [190; handschriftlich]
Frankfurt am Main
9. September 1973
Lieber Peter
Fast durch Zufall hörte ich, Du seist wieder zurück.
Ich bin bis Freitag in der Schweiz, dann melde ich mich bei Dir. Vielleicht sehen wir uns am Wochenende. 1
Sehr herzlich
Siegfried
1
S. U. hielt sich zwischen dem 12. und 15. September 1973 in der Schweiz auf. Die Chronik vermerkt unter dem 18. September 1973: »Gespräche mit Handke. Sein ›Blaues Gedicht‹ gefällt mir sehr gut. [P. H., Blaues Gedicht , in: Merkur 304, 1973, S. 838-846; wiederabgedruckt in: P. H., Als das Wünschen noch geholfen hat , S. 55-69]«
[191; Anschrift: Paris 1 ]
Frankfurt am Main
17. Dezember 1973
Lieber Peter,
erinnerst Du Dich noch, daß während des Ausländerempfangs eine junge Dame Dich eifrig fotografierte? Sie bat mich, Dir dieses Foto zuzuschicken. 2
Schöne Grüße
Dein
[Siegfried Unseld]
1
P. H. übersiedelte Anfang Dezember 1973 nach Paris; seine Adresse lautete: 77, Boulevard Montmorency, 75016 Paris.
2
Der Empfang des Suhrkamp Verlags für ausländische Verleger und für Agenten fand jeweils am Buchmessensamstag statt, die
238 Buchmesse 1973 zwischen dem 11. und 16. Oktober. Die Fotos sind nicht ermittelt.
[192; handschriftlich]
[Paris]
23. Dezember 1973
Lieber Siegfried,
ich will Dir nur schreiben, daß man mir die falsche Telefonnummer für hier gegeben hat. Es heißt: 288 82 9 7, nicht 8 7, wie ich es Dir angegeben habe.
Es geht mir gut hier, schon den dritten Tag, und das alte Schreibbewußtsein ist auch nicht verschwunden. Wenn ich aus dem Haus trete, freue ich mich, und wenn ich wieder zurückkomme, freue ich mich auch.
Für heute, herzlich,
Dein Peter
239 1974
[193; handschriftlich]
[Paris]
25. Januar 1974
Lieber Siegfried,
einen kurzen Brief: ich arbeite seit einigen Tagen an einem Gedicht. Es geht sehr langsam, obwohl ich vier, fünf Stunden das Gehirn herumjage, hoffentlich nicht im Kreis. Ich möchte sehr gern, daß die drei Gedichte im Herbst als Taschenbuch erscheinen, als Gegensatz drei oder vier Aufsätze dazwischen, die keine rechten Aufsätze sind, sondern mehr offenere und politikbezogene Gedichte. Das würde den 3 eigentlichen Gedichten sehr wohl tun und ihnen auch den Kunstcharakter ein bißchen entziehen. Es
Weitere Kostenlose Bücher