Der Brombeerpirat
dessen Existenz er zumindest noch nie gehört hatte.
Die Situation war ebenso unwirklich wie festgefahren. Sanders leerte seine Tasse in einem Zug und erhob sich. Er hatte keine Ahnung, worum es hier überhaupt ging, wer hier welche Rolle spielte und wo er bei der ganzen Sache stand. Und das missfiel ihm, sehr sogar.
»Sie haben natürlich Recht«, sagte er nur und ging ein paar Schritte auf die Tür zu, durch die sie eingetreten waren. Veit Konstantin ließ seinen Körper auf den Sessel fallen, als habe er etwas sehr Anstrengendes hinter sich gebracht. Helle Flecken kämpften sich nach und nach durch seinen dunkelroten Teint, und er schien mehr als erschöpft zu sein, denn er brachte nur noch ein schwerfälliges Nicken zustande.
»Es tut mir Leid, wenn wir Sie mit unserem Erscheinen derart in Aufruhr versetzt haben, dies war nicht unsere Absicht.« Ein schneller, sauberer Abgang, das war es, was Sanders jetzt nur noch wollte, raus aus der guten Stube der Konstantins, in der er und seine Kollegen alles andere als erwünscht waren.
Und dann, ja dann würde er erst einmal ein langes, ernstes Gespräch mit Wencke Tydmers führen. Denn was auch immer sie sich bei dieser Aktion gedacht hatte, ob sie nun aus persönlichen oder beruflichen Motiven heraus unbedingt hier antanzen musste, es hatte ihm den Fall versaut. Alles deutete darauf hin, dass es sich hier um einen tragischen Selbstmord einer pubertierenden Jugendlichen handelte. Es hätte alles so einfach sein können, hätte sie sich nicht eingemischt. Wenn sie ihre privaten Interessen nicht von der Polizeiarbeit trennen konnte und die Aufklärungsarbeiten, wie offensichtlich in diesem Fall, behinderte, dann war dies nicht nur unprofessionell und gefährlich, es war vor allem ein Grund für eine saftige Disziplinarstrafe. Brutal gesagt: Ob Wencke Tydmers vom Dienst suspendiert und nach allen Regeln der Kunst gefeuert würde, ob sie den Stuhl räumen müsste, auf den er sowieso viel besser passte, dies hing einzig und allein von ihm ab. Davon, was er erzählen und was er verschweigen würde.
Und vielleicht lag es auch ein klein wenig an ihr. Er hoffte, sie würde ihn nicht wieder so ansehen, so in ihn hineinsehen wie damals auf dem Empfang zu Ehren ihrer Beförderung, als sie seine Rose nahm.
Das Schiff um 18.30 Uhr hatte er abgeschrieben.
Endgültig.
10.
Die Stimmung in der Waldkirche war irgendwie seltsam. Es war nicht so, dass alle weinten. Genau genommen heulte keiner. Die meisten hielten sich nur ein wenig zurück, niemand sagte aus Gedankenlosigkeit so etwas wie: »Alter, ich bring dich um, ich schwör’s.« Und daran merkte Pinki, dass sie alle an Leefke dachten.
Swantje lag auf dem Steinaltar und brütete über einem Buch, das Leefke ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Wahrscheinlich hatte es bis heute unbeachtet in irgendeiner Ecke gelegen, denn außer Leefke hatte niemand von ihnen besonderes Interesse am Lesen. Doch nun hatte dieses Geschenk eine ganz andere Bedeutung bekommen. Swantje zumindest war nicht ansprechbar, obwohl sie immer noch auf Seite fünf war. Vielleicht war es ihre Art, sich von Leefke zu verabschieden.
Wilko und Jens hatten ihre Anlage mitgebracht. Die »Piraten« dröhnten aus den großen Boxen, die auf den hölzernen Sitzbänken der ersten Reihe standen. Manche fanden die Musik eigentlich beschissen, doch jeder wusste, Leefke hätte sie jetzt gehört, genau so laut und in diesem Moment, weil sie immer nur die »Piraten« gehört hatte, als sie noch lebte. Also gestern noch.
In erster Linie wohl wegen Jasper. »So bin ich ihm irgendwie näher«, hatte sie Pinki einmal erklärt. O Mann, sie war wirklich verschossen gewesen. Dinge, die sie über Jasper gesagt hatte, waren eigentlich die einzigen schwachsinnigen Worte, die Leefke jemals von sich gegeben hatte. Alles andere war vernünftig und die Wahrheit gewesen. Es hatte überhaupt nicht zu ihr gepasst, dass sie verknallt war. Vielleicht war es auch mehr als das gewesen, vielleicht war es echte Liebe. Pinki hatte keine wirkliche Ahnung davon gehabt, was Jasper und Leefke miteinander hatten und was nicht. Sie waren oft zusammen, jedenfalls öfter, als es normal gewesen wäre für eine Vierzehnjährige und einen erwachsenen Mann. Auch allein. Pinki hatte sich oft ausgeschlossen gefühlt, obwohl sie wusste, dass Jasper ihr den Rang als beste Freundin niemals streitig machen konnte. Doch was erzählte Leefke ihm, was sie ihr vielleicht verschwieg? Und diese Gedanken hatten
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