Der Brombeerpirat
seinen Vierzigsten irgendwie anders vorgestellt. Und bei allem Sinn für Humor, den er zweifelsohne besaß, dies ging nun doch ein bisschen zu weit.
Zuerst hatte er darauf gewartet, dass Leefke mit Rika zurückkam, so, wie sie es ihm zugesichert hatte. »Ich muss mir sicher sein, dass du noch hier bist, Jasper. Versprich mir, dass du hier auf uns wartest. Sie wird dir einiges zu erzählen haben, deine Rika, glaube mir. Also bitte, bleibe hier. Ich bin so schnell wie möglich wieder da.« Bis elf Uhr hatte er in diesem seltsamen, bis auf einen jämmerlichen Kellerschacht fensterlosen Wirtschaftsraum gesessen und den Wein getrunken, den sie ihm bereitgestellt hatte. Als er jedoch mit seiner Geduld am Ende war, wollte er zur Tür hinaus und nachsehen, wo Leefke blieb. Der Schreck traf ihn tief, als er erkannte, dass sie ihn eingeschlossen hatte.
Die Befürchtungen belagerten sein Herz nur kurze Zeit, dann wurde ihm klar, was für eine Verschwörung das sein musste: Der Uhrzeiger wanderte unaufhaltsam auf seinen Vierzigsten zu. Punkt Mitternacht würden die Türen mit einem schallenden »Happy Birthday« aufgerissen werden. Wie sollte es anders sein?
Mit ihren unschuldigen Kinderaugen hatte Leefke ihn unter einem Vorwand hierher gelockt, ihn außer Gefecht gesetzt, und gleich würden sie alle zum Feiern erscheinen: Rika und Leefke, Remmer und Tido, die Jugendlichen von der Waldkirche, vielleicht noch seine Mutter aus Worpswede und ganz vielleicht auch seine kleine Schwester Wencke, die ihn schon immer mal auf der Insel besuchen wollte. Grinsend war er aufgestanden und hatte die Sekunden gezählt, zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins …
Nichts war geschehen. Es war nach zwölf, es war sein Geburtstag, und er war immer noch allein. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das erste Mal das konkrete Gefühl gehabt, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Was hatte Leefke ihm erzählt?
»Ich kann nicht anders, ich muss dir die Wahrheit sagen. Du wirst mich hassen, du wirst uns alle hassen, weil wir dir nicht vertraut haben und es schon viel eher hätten erzählen müssen, und nicht erst jetzt, wo es viel zu spät ist. Aber es ist so schrecklich, Jasper, so schrecklich, dass ich mich dafür schäme. Und ich brauche Rika, damit du mir das Ganze auch glaubst. Sie weiß nämlich mehr als wir alle, und wenn sie dabei ist, dann wirst du wissen, dass es die Wahrheit ist.«
Jasper hatte immer gedacht, dass er Leefke kannte. Was war ihm entgangen?
Als er müde wurde vom Warten und vom Wein, da hatte er die Hoffnung bereits aufgegeben, dass sie diese Nacht noch zurückkommen würde. Eine alte Gartenliege in der Ecke musste bis morgen früh reichen. Doch er schlief schlecht; als er aus den kurzen Momenten des Schlafes erwachte, verfluchte er Leefke. Er hätte nie gedacht, dass er sie hassen könnte, doch für dieses Einsperren gab es keine Entschuldigung.
Eine Dose Leberwurst war sein Frühstück, viel mehr gab es hier nicht zu essen, nur noch zweimal Schweinskopfsülze, doch bitte nicht am frühen Morgen. Oma Alide war seit einem halben Jahr unter der Erde, warum also sollte es in ihrer Speisekammer aussehen wie im Schlaraffenland?
Und so hatte er seinen ganzen vierzigsten Geburtstag in einem gottverlassenen Raum in einem menschenleeren Haus am Ende der Insel verbracht. Jetzt war es schon achtundzwanzigeinhalb Stunden her, dass Leefke ihn hier eingesperrt hatte. Heute Mittag hatte diese grausame Langeweile dem letzten Stück Hoffnung den Garaus gemacht. Er hatte ein paar Stunden damit verbracht, den Beipackzettel eines Unkrautvernichtungsmittels zu studieren. Es war Folter. Langeweile war für ihn die schlimmste Folter, unerträglicher noch als die Nacht auf der Liege. Warum tat Leefke ihm das an?
Weil er nicht bereit war, ihr das zu geben, was sie von ihm wollte? Dieses Thema war seiner Meinung nach schon längst abgehakt. Er war so sicher gewesen, dass sie sich die Liebe aus dem Kopf geschlagen hatte. Diese liebe, kluge Leefke. Hatte er sie falsch verstanden? Hatte er irgendwann einmal Hoffnungen in ihr geweckt und sie dann enttäuscht? Es würde ihm unendlich Leid tun, wenn es so wäre. Sie hatte ihr Limit bereits überschritten, jeder, der ihr Schmerz zufügte, hätte sie damit zerstören können. Und Jasper hatte dies stets bedacht, er war so behutsam mit ihr umgegangen.
Je länger er darüber nachdachte, und er hatte ja verdammt viel Zeit zum Nachdenken, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung,
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