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Der Brombeerpirat

Der Brombeerpirat

Titel: Der Brombeerpirat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Liebesbriefe beim nächsten Mal bei der Post einwerfen, wenn du nicht willst, dass die Gäste sie finden und sich einen Spaß daraus machen, sie zu lesen.« Sie meinte es sicher nicht böse, ihre Mutter, so war sie nun mal. Pinki wollte sich nicht über ihre Eltern beklagen, sie waren zwar zutiefst langweilig, aber sonst absolut erträglich.
    Der Brief war weder von Jens noch von Wilko, und von ihnen hätte sie es am ehesten erwartet, obwohl die ihre Botschaften eigentlich per SMS schickten. Ihr Name war mit Schreibmaschine auf den Umschlag getippt. Wer hatte heute noch eine Schreibmaschine?
    Sie öffnete hastig das Kuvert. Es war nur ein Notizzettel.
    »Wenn du so viel weißt, wie du vorgibst, dann halte dich besser zurück. Oder willst du Oma Alide und Leefke demnächst mit Handschlag begrüßen?«
    Konstantin! Oder Rika?
    Sie war fünfzehn und erhielt am Frühstückstisch ihre erste Morddrohung.
    Sie beobachtete sich selbst ganz genau. Zitterte sie? Schlug ihr Herz schneller?
    Nein. Sie hielt den Zettel in der Hand, las ihn erneut, doch es brach ihr kein kalter Schweiß aus, und sie biss herzhaft in ihr Marmeladenbrötchen.
    »Und, wie ist der Brief?«, fragte Dagmar mit amüsiertem Blick von der Spülmaschine her.
    »Echt cool«, sagte Pinki.

16.
    Hinter der Lippestraße begann die Insel. Ein Stück weit liefen sie auf dem Deich entlang, dann führte sie der hell gepflasterte Weg vom Wasser fort und schien die Insel einzuteilen: links von ihnen erst das Klärwerk, dann die mächtigen, grauen Dünen mit ihrem wilden Gemisch aus Halmen und Büschen. Doch zu ihrer Rechten breitete sich ein erfrischender Wirrwarr von Bäumen und Gräsern aus. Vögel, die mit Sicherheit selten und für einen Naturkenner von großer Bedeutung waren, gaben ihre quäkenden, zeternden Laute von sich. Wencke kannte keines dieser Tiere mit Namen, doch sie lauschte ihnen fast ehrfürchtig und dachte an die Samstagnachmittage ihrer Kindheit, an denen sie mit Jasper immer eine halbe Stunde Tierfernsehen gucken durfte.
    Die Luft war schwüler, als Wencke es von einer Nordseeinsel erwartet hatte, und der vorherige Abend machte es ihr schwer, mit der Hitze umzugehen. Sie war froh, gestern noch dieses atemberaubende Bad im Meer genommen zu haben. So ziepte lediglich ein kleines bisschen Kopfschmerz hinter den Schläfen, und der Nachdurst trocknete ihr die Kehle aus; ansonsten war es auszuhalten.
    Remmer erzählte. Es war erfreulich, dass er die Schönheit, das Besondere der Insel noch wahrzunehmen schien. Die meisten Menschen, die im Paradies leben, merken es noch nicht einmal. Am Wegesrand waren maßstabsgetreue Modelle der Planeten abgebildet, die sich um die Sonne drehten. Die Sonne, die heute mit ihrer ganzen Energie die Luft erhitzte. Remmer erzählte ihr von der Sternwarte auf Norderney und dem riesigen Teleskop, durch das er auch schon einmal in den Inselhimmel geschaut hatte. Als sie das Modell von der Erde erreicht hatten, staunte Wencke einmal mehr darüber, wie winzig und verloren diese Murmel im Weltall kreiste. Diese Perspektive machte sie immer kleinlaut. Sie dachte an die kleine Erde und an die kleine Insel darauf, und mit einem Mal hatte sie das sichere Gefühl, trotz all der Unendlichkeit am richtigen Ort angekommen zu sein.
    Erst im letzten Jahr war aus Wencke eine Inselfreundin geworden. Früher einmal war ihr das Gefühl des Abgeschiedenseins unbehaglich erschienen, heute liebte sie die begrenzte Freiheit zwischen Watt und Wellen und das Wissen, ein wenig unerreichbar zu sein.
    Sie hätten auch mit Remmers Taxi fahren können, wahrscheinlich hatte er sogar gehofft, dass sie sein Angebot annehmen würde, doch ihr war nach Laufen zumute.
    Als sie den Mars passiert hatte, konnte sie nicht mehr widerstehen. Ein schmaler Pfad lud sie ins Dickicht ein. »Darf man das?«, fragte sie zur Sicherheit. Und als Remmer nickte, da rannte sie los.
    Sie konnte einfach nicht langsam gehen, der Moment hatte sie fest im Griff, und sie musste schon wieder an ihren Bruder denken, mit dem sie im Wald hinter ihrem Elternhaus immer Flüchtlinge gespielt hatte: Einfach rennen, als wäre der Teufel hinter ihnen her, immer tiefer in die Ungewissheit hinein, den Orientierungssinn ausgeblendet, bis einer von ihnen stehen geblieben war und sie den Weg nach Hause suchen mussten, mit zerkratzten Beinen, Durst und Hunger und einem Kinderherz, das bis zum Hals schlug.
    Der festgetrampelte Sandweg schlängelte sich zwischen den Dornen und Büschen hinein in ein

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