Der Brombeerpirat
dass es nicht Leefkes Schuld war, dass er immer noch hier saß. Sie hätte mit ihm so etwas nie gemacht.
Was hatte Rika mit der ganzen Sache zu tun? Was konnte sie schon wissen, was ihm nicht bekannt war? Rika hatte sich doch immer aus der ganzen Sache herausgehalten. »Was gehen mich die Kinder an?«, hatte sie ihm oft mürrisch entgegnet, wenn er sich einmal mehr Hals über Kopf für die Jugendlichen eingesetzt hatte. Gestern erst hatten sie sich mal wieder deswegen in den Haaren gelegen. »Werde erst einmal selbst erwachsen, bevor du dir dein ganzes Leben wegen der Norderneyer Halbstarken schwer machst«, waren ihre letzten Worte gewesen, wenn er sich recht entsann. Ihm war schon klar, dass Rika mit ihren Vorwürfen nicht ganz Unrecht hatte. Zum Glück hatte er eine Frau wie sie an seiner Seite. Auch wenn es ihm noch nie so bewusst war wie in diesem Moment: Hätte sie ihm nicht regelmäßig den Kopf zurechtgerückt, dann hätte er schon oft die Orientierung verloren.
Doch warum suchte sie nicht nach ihm? Warum schnappte sie sich nicht Leefke und zog ihr die Ohren lang, bis sie wusste, wo er war?
Es war Jasper zuwider, eine Frage nach der anderen in diesen kahlen Raum zu stellen. Es war niemand hier, der ihm auch nur die leiseste Antwort geben konnte.
Er sehnte sich nach einem Stück Papier und einem Stift. Seine Wünsche zum Geburtstag waren dieses Jahr sehr bescheiden.
An der Wand hing ein Plakat, das die Mülltrennung im Landkreis Aurich erklärte. Er konnte es bereits auswendig. Nun, er hatte nicht gewusst, dass Babywindeln in den Bioabfall gehörten, und es war ihm auch ziemlich egal. Er löste das Poster von der Wand und ritzte mit der Stecknadel kleine Striche auf die Rückseite. Es funktionierte. Er freute sich wie ein kleines Kind. Dann schrieb er langsam ein paar Worte auf, nahezu unsichtbar, doch wenn man später mit einem Bleistift darüber ging, würde man sie lesen können.
»Meine kleine Schwester«, begann er.
Er hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet jetzt an Wencke dachte.
15.
Wolkenlos und windstill, 29°C im Schatten
Was wäre gewesen, wenn sie es von Anfang an erzählt hätten? Pinki hatte sich diese Frage schon an die tausend Mal gestellt. Und die Antwort war immer dieselbe gewesen: Sie hätten ihnen nicht geglaubt.
Nicht, bis es sowieso zu spät gewesen wäre. Und dann hätten sie gesagt: Warum seid ihr nicht eher gekommen?
Bis gestern war Pinki sich selbst nicht hundertpro zentig sicher gewesen, dass ihre Vermutungen stimmten. Doch Konstantin hatte sie nun davon überzeugt. Der blasse Schreck in seinem Gesicht, als sie Oma Alides Namen erwähnt hatte, war Beweis genug.
Leefke hatte niemals Zweifel daran gehabt.
Es war schon immer schwer gewesen, Leefke zu verstehen, weil sie eben so anders war als alle von der Waldkirche. Doch jetzt, wo Leefke nicht mehr da war, hätte Pinki gern mehr über sie gewusst. Warum hatte sie ihre Freundin nie danach gefragt? War Leefke vielleicht nie ihre Freundin gewesen?
Pinkis Mutter wirbelte um den Frühstückstisch herum. Sie war sicher froh, wenn nächste Woche die Schule wieder losging und die Familie fix und fertig und aus dem Haus war, wenn die Gäste in der Veranda ihr Frühstück verlangten.
»Denk bitte dran, die Damen von Zimmer drei nehmen nur Halbfettmargarine und koffeinfreien Kaffee«, rief sie Dagmar beim Hinausgehen zu. Dagmar war Studentin und half in den Semesterferien in der Pension aus. Es kam oft vor, dass Pinkis Mutter sich mehr mit Dagmar unterhielt als mit dem Rest der Familie. Hochsaison. Es war schon immer so gewesen. Pinki wollte niemals das Haus übernehmen, wenn sie groß war. Ihre Eltern wussten es noch nicht. Doch dieser Tagesablauf mit Tische eindecken, Zimmer putzen, Wäsche mangeln und Müll wegbringen, dazwischen ein paar freundliche Worte mit den Gästen wechseln, wenn man ihnen im Flur begegnete, es war das Leben, das Pinki zur Genüge kannte, aber nicht das Leben, welches sie in Zukunft führen wollte.
»Schatz, nimm bitte nicht von der Erdbeermarmelade, die ist für die Gäste. Im Kühlschrank ist noch ein Rest Pflaumenmus.« Die Mutter war wieder hereingekommen, sie zählte Brötchen ab, für jeden Gast ein normales und eines, das er gestern noch nicht hatte, Mohn oder Sonnenblumenkerne, dazu zwei Scheiben Graubrot. »Reichhaltiges Frühstück« stand bei ihnen an der Eingangstür.
»Ich habe einen Brief für dich, Rosa. Er lag unter der Fußmatte. Sag bitte deinen Verehrern, sie sollen ihre
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