Der Brombeerpirat
neben ihrem Badelaken. Eigentlich war es viel zu heiß zum Rauchen. Die Luft war ohnehin schon so dick, der Zigarettenqualm schien sich direkt um ihren Kopf zu einer Rauchwolke zu sammeln, und sie musste husten.
»Wenn ich dich so höre, dann weiß ich wohl, warum ich es jetzt besser sein lasse«, spottete Swantje. Alberne Gans, dachte Pinki, sie hatte doch sowieso nur aufgehört, weil sie hinter Wilko her war. Sie hatte doch keine Ahnung. Lag da viel zu fett in ihrem peinlichen Hippiebikini herum und hatte wirklich keinen Schimmer, was um sie herum vorging.
Pinki hatte den Brief niemandem gezeigt. Die Leute von der Waldkirche wären die Einzigen gewesen, denen sie von der Morddrohung hätte erzählen können, doch irgendwie waren die heute alle schlecht drauf. Und sie gingen ihr aus dem Weg. Vielleicht war Pinki auch etwas empfindlich und bildete es sich nur ein, aber es hatte sich niemand zu ihr gesetzt hier am Strand. Die anderen hatten ihre bunten Laken wie einen Flickenteppich über den Sand geworfen und lümmelten sich kreuz und quer auf ihrer farbenfrohen Insel, während sie allein ein Stück weit von ihnen entfernt lag. Nur einen halben Meter Sand zwischen ihr und ihnen und doch irgendwie unerreichbar weit entfernt.
Pinki schob den zusammengefalteten Brief noch tiefer in ihre Strandtasche. Philip und Jens pfiffen peinlich laut in Richtung roter Strandkorb Nummer 1356, wo sich zwei Touristenmädels gerade gegenseitig das Bikinioberteil zubanden. Sie waren schlank und langhaarig, und die Sonnenbrillen auf ihren Stupsnasen sahen teuer aus. Grinsend winkten die Mädels zurück. Die Jungs johlten und klatschten ihre rechten Handflächen aufeinander, als hätten sie beim Fußball ein Tor geschossen. »Die kriegen wir heute noch platt«, sagte Philip. Jens lachte laut und ein wenig übertrieben.
Leefke fehlte. Sie fehlte an allen Ecken und En den. Pinki vergrub ihre Füße im warmen, hellen Sand, dann spreizte sie die Zehen, und die winzigen Körnchen rieselten trichterförmig und in kleinen Kratern der Tiefe entgegen. Treibsand. Eine winzige Bewegung brachte alles zum Einstürzen, unaufhaltsam.
Was wäre gewesen, wenn Veit Konstantin sie damals nicht runtergemacht hätte? Damals …
Silvesternacht! Alle waren laut auf der Insel, Böller und Sektkorken, Lachen und Grölen, »Schönes neues« wünschten sich alle. Schönes neues was? Schönes neues Jahr? Oder schönes neues Geschäft? Schönes neues Leben …
Die »Piraten« spielten im »Haus der Begegnung«, eigentlich gingen sie mit der Clique nie dorthin, aber Leefke bestand darauf, und irgendwie setzte sie ihren Willen mal wieder durch. Es gab keinen Alkohol unter sechzehn Jahren. Und rauchen mussten sie auch heimlich. Jasper und seine Band waren gut drauf. »Sturm im Wasserglas« war laut und richtig krass, sie flogen alle wie aufgeputscht durch den Jugendraum und sangen mit.
Spürst du einmal Gegenwind, wendest du dich ab
doch im Windschatten macht irgendwann
der Vordermann schlapp
Verlass dich nicht auf meinen Rücken
bei zu viel Last werde ich mich bücken
und schmeiß dir meinen Zorn entgegen
weißt du nicht: Ich komme lieber von der Traufe in den Regen.
Vielleicht war es der Song, der sie angestachelt hatte in dieser Nacht, vielleicht war es auch dieses alberne Jugendschutzgesetz, jedenfalls verabschiedeten sie sich kurz nach Mitternacht und pilgerten in die Stadt. Am Kurplatz war die Hölle los. Unbekannte Gesichter belagerten die Insel, grinsten besoffen in den Neujahrshimmel und lallten irgendwelche Schlager, die keiner mehr hören wollte. Schunkeln und Drängeln und eine fremde Hand zwischen ihren Beinen. »Lass das, du Schwein, da hast du nichts zu suchen«, fauchte Pinki wie eine Wildkatze den alten Kerl an. Doch in der Menschenmenge nutzte er die Gelegenheit, sich weiterhin an ihr zu reiben, so penetrant, dass es einfach kein Versehen sein konnte. Und da rammte sie ihm das Knie zwischen die Beine. Kurz und präzise, so als hätte sie es schon hundertmal gemacht. Doch ihr Puls raste dabei und ihr Blick musste panisch gewesen sein, jedenfalls drängte sich Wilko zu ihr hinüber und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie schaute sich um, aber der Typ war verschwun den. In diesem Moment kochte die Wut heiß und brennend wie Säure aus ihr heraus. »Sie sind da auf unserer Insel, sie nehmen alles in Beschlag und machen es kaputt, und wenn wir sie am Arsch haben, dann hauen sie einfach wieder ab und lassen uns mit dem ganzen Müll
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