Der Brombeerpirat
die Tür und sprang heraus. Wencke blickte hoch, sie schien erschrocken zu sein, als er vor ihr stand. An ihrem linken Oberarm hatte eine Menge Blut das weiße T-Shirt auf ihre Haut geklebt. »Frau Kollegin, was machen Sie denn für Sachen?«
»Ein Streifschuss«, sagte sie ruhig, als wäre es das Alltäglichste von der Welt, angeschossen in den Norderneyer Dünen spazieren zu gehen. Die anderen waren bis auf Konstantin ebenfalls aus dem Wagen gestiegen und stellten sich um Wencke und ihren unbekannten Begleiter herum. Die Norderneyer Kollegin hatte geistesgegenwärtig den Verbandskasten aus dem Wagen mitgebracht und begutachtete die klebrige Wunde. Sanders hätte das nicht gekonnt. Er hasste Verletzungen. Und doch musste er gegen den Drang ankämpfen, sich an ihre Seite zu stellen, sie zu stärken, sie vielleicht kurz an sein hellblaues Hemd zu drücken.
»Tut mir Leid, Kollegin Tydmers, ich denke, wir sollten Sie schnellstens in unseren Wagen packen und zur Klinik fahren.« Jutta Lütten-Rass hatte notdürftig einen Verband angelegt. »Das muss sich dringend ein Arzt anschauen. Wie lang ist es her?«
»Eine gute Stunde, denke ich«, sagte der Mann neben Wencke. Er war einer von der unscheinbaren Sorte, etwas aus der Form geraten und unsportlich. Woher kannte Wencke ihn? Und was suchte sie mit diesem Typ hier am Rand der Insel? Sanders konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass sie aus reinem Urlaubsvergnügen wandern ging. Dazu kannte er seine Vorgesetzte viel zu gut. Und der Streifschuss an ihrem Arm sprach auch nicht gerade dafür, dass sie sich wie eine ganz normale Touristin über die Insel bewegt hatte.
»Haben Sie den Schützen erkannt?«, fragte er.
Beide schüttelten die Köpfe.
Britzke hielt stumm und mit blassem Gesicht die hintere Wagentür auf und half Wencke auf die Rückbank.
»Ich bleibe hier«, sagte Konstantin und stieg aus. »Wir passen nicht zu sechst in den Wagen. Am Haus müsste noch ein Fahrrad stehen, damit werde ich zurückfahren.«
Sanders und Britzke stiegen ein, der andere Mann nahm stöhnend auf dem Beifahrersitz Platz. Die Polizistin hatte den Rückwärtsgang bereits eingelegt und wendete auf der schmalen Straße, da fiel Sanders noch etwas ein. Er kurbelte das Seitenfenster runter und rief Konstantin zu: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie im Haus keine verschlossenen Türen öffnen dürfen. Sie nehmen sich bitte nur den Drahtesel und fahren dann wieder los. Alles andere könnte für die Beweisaufnahme wichtig sein. Haben Sie verstanden, Herr Konstantin?«
»Selbstverständlich«, antwortete dieser und ging weiter auf das Haus in den Dünen zu.
Sanders war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er ihn hier zurückließ. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste von Wencke Tydmers erfahren, was vorgefallen war.
Das hatte oberste Priorität.
»Hat dieser Veit Konstantin einen Waffen schein?«, fragte Wencke plötzlich. Ihre Stimme klang genauso elend, wie sie aussah.
Kommissarin Lütten-Rass musste nur kurz überlegen. »Ja, er ist Jäger, genau wie sein Bruder. Weshalb fragen Sie?«
Wencke sagte nichts, sie sah aus dem Fenster.
»Konstantin war seit einer Dreiviertelstunde bei uns im Kommissariat. Er kann es nicht gewesen sein«, sagte Britzke.
»Vielleicht sollten wir seinen Bruder mal besuchen«, warf die Kollegin am Steuer ein.
Doch Wencke Tydmers schwieg weiter. Sie hatte das Gesicht von ihm abgewandt. Sanders wollte nicht zu genau hinsehen, er schielte mehr aus den Augenwinkeln an Britzke vorbei auf die zusammengekauerte Person. Konnte es sein, dass sie weinte?
Der Mann auf dem Vordersitz schaute geradeaus. »Es waren zwei!«
»Zwei?«, kam es Sanders und Britzke beinahe zeitgleich über die Lippen.
»Die Schüsse kamen aus zwei Richtungen«, sagte Wencke Tydmers leise, und am Zittern ihrer Stimme konnte Sanders hören, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte.
Wencke Tydmers weinte.
Und Sanders bemerkte mit diesem wohlbekannten, unangenehmen Gefühl im Bauch, dass ihm das Elend seiner kleinen chaotischen Kollegin eigentlich viel zu nahe ging.
19.
Wilko hatte vor drei Tagen mit dem Rauchen aufgehört, und Swantje wollte es jetzt auch versuchen. Sie kauten Kaugummi wie die Wahnsinnigen und gingen allen anderen auf den Geist. Dann doch besser rauchen, dachte Pinki. Sie hatte sich noch eine Packung aus dem Automaten gezogen, bevor sie alle an den Nordstrand gegangen waren. Nun drückte sie bereits die siebte Kippe in den warmen Sand
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