Der Brombeerpirat
diesem riesigen Schiff hinterher. »Du bist von hier, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Pinki.
»Kanntest du die Leefke Konstantin?«
Pinkis Herz schlug schneller. »Sind Sie von der Polizei?«
»Jein«, lachte die Frau.
Pinki sagte nichts, sie rauchte nur und beschloss, so schnell und unauffällig wie möglich zu verschwinden.
»Keine Sorge, meine Frage ist rein privat. Normalerweise arbeite ich bei der Kripo, doch jetzt bin ich im Urlaub hier. Ich frage dich nur, weil ich meinen Bruder suche. Der ist nämlich verschwunden.«
Jetzt schaute Pinki noch einmal genauer hin. Die Frau blickte ernst und nachdenklich in die Ferne, doch vorhin hatte sie kurz gelächelt, Pinki erinnerte sich an ein weißes Blitzen zwischen den Lippen, sie kannte dieses Lachen. »Jasper ist verschwunden?«
Die Frau nickte. »Seit jener Nacht.«
»Das kann nicht sein«, sagte Pinki flach, doch in ihrem Kopf setzte sich einiges zu einem passenden Bild zusammen, und es gefiel ihr ganz und gar nicht, was sie da erkannte. Bislang hatte es sie noch nicht stutzen lassen, dass Jasper sich nicht bei ihnen gemeldet hatte. Unter normalen Umständen hätte er es getan, da war sie sicher. Er musste genauso von Leefkes Tod betroffen sein wie sie alle. Wenn nicht sogar noch ein wenig mehr. Doch er hatte sie bisher allein gelassen. Hatte sich nicht um sie gekümmert. Hatte sie im Stich gelassen. Und sie wusste doch, dass Leefke sich an diesem Abend mit ihm treffen wollte. Mit ihm und Rika. Sie wollte endlich reinen Tisch machen, hatte sie gesagt. Sie wollte nicht mehr mit der Wahrheit hinterm Berg halten, dazu sei ihr Jasper viel zu wichtig geworden. Und sie, Pinki, hatte wirklich versucht, es ihr auszureden.
Sie musste das Gesicht verzogen haben, denn die Frau sah sie nachdenklich von der Seite an. »Ich bin Wencke Tydmers, und es würde mir wirklich sehr viel bedeuten, wenn du mir erzählen könntest, was du weißt.«
Pinki schüttelte den Kopf. Ihr war speiübel, und sie wusste auch, warum. Sie wusste, diese Frau hier neben ihr würde der Mensch sein, dem sie alles erzählen konnte. Und es war kein Gefühl der Erleichterung, wirklich nicht. Langsam schob Pinki die Hand in den Strandbeutel, fast wie von selbst glitt ihr der Brief in die Finger. Sie zog ihn heraus.
»Darf ich das lesen?«, fragte Jaspers Schwester. Wortlos schob Pinki ihr das kleine Stück Papier in die Handfläche. Lautlos bewegte die Frau ihre Lippen, als sie die kurzen Zeilen überflog.
»Wenn du so viel weißt, wie du vorgibst, dann halte dich besser zurück. Oder willst du Oma Alide und Leefke demnächst mit Handschlag begrüßen?« Pinki kannte jede Silbe, obwohl sie den Zettel nur zweimal gelesen hatte. Die Worte hatten sich in ihrem Hirn eingebrannt, wahrscheinlich für immer.
»Ich nehme mal an, du weißt nicht, von wem das kommt«, sagte die Frau leise und ohne einen Hauch von Verwunderung in der Stimme, als sie ihr den Zettel zurückgab.
»Doch, ich habe da so eine Vermutung. Aber es ist wirklich nicht mehr als das.«
Pinki spürte einen festen, aber freundschaftlichen Druck an ihrem nackten Oberarm, als die Frau sie zu einer freien Parkbank führte. Sie setzten sich, die aufgeheizte Sitzfläche brannte an ihren Schenkeln.
»Ich habe hier einen Text von Leefke«, sagte die Frau neben ihr.
Schon die ersten Zeilen verschwammen vor ihren Augen, denn sie sah Leefke vor sich, wie sie wütend und grundehrlich die Wahrheit sagen wollte. Niemand hatte sie je davon abbringen können. Nur dieses eine Mal hatten sie alle Leefke zum Schweigen verdonnert. Dieses eine Mal. Und das hatte ihrer Freundin das Leben gekostet. Hätte sie doch nur etwas gesagt …
Sie rieb sich mit dem Handrücken die verlaufene Mascara aus dem Gesicht.
Pinki wusste, es würde keine Aufforderung zum Reden kommen. Sie und diese Frau, diese Wencke Tydmers, tranken beide kalte Cola und schwitzten, weil die Sonne ihnen glühend in den Nacken brannte.
Und als sie sich die nächste Zigarette anzündeten, hatte Pinki eine Idee. Sie hielt der Frau das abgebrannte und ein ungebrauchtes Streichholz entgegen. Es war so eine Marotte von ihr, dem Schicksal die Entscheidung zu überlassen, wenn sie nicht ja und nicht nein sagen konnte.
»Ich weiß einfach nicht mehr, was richtig ist. Reden oder Schweigen. Manchmal ist auch beides verkehrt. Und darum bitte ich Sie, ein Streichholz zu ziehen.«
Wencke Tydmers verzog keine Miene. Ernst blickte sie in Pinkis Augen, ernst und ein wenig traurig. »Wenn ich das lange
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