Der Brombeerpirat
auf Menorca ein Seminar für Teamfähigkeit und Führungsqualitäten besucht. Am ersten Abend hatten sie ein paar Rollenspiele gemacht, nicht irgendwelches Laientheater, sondern außergewöhnliche Situationstests, die das bereits vorhandene Potenzial auf die Probe stellten. Sein Ergebnis war niederschmetternd gewesen und er hatte sogar kurzfristig überlegt, den Lehrgang zu schmeißen, da er sich falsch verstanden fühlte. Doch dann hatte sein Ehrgeiz gesiegt, und siehe da, hartes Extremtraining, schweißtreibende Strategieperformances und knallharte Individualdiagnosen hatten aus ihm in nur acht Tagen einen neuen Menschen gemacht. Es hatte viel Geld gekostet, und er bekam diesen Kurs nicht als Weiterbildungsmaßnahme anerkannt, weil das verknöcherte Polizeisystem noch nie etwas von dieser bahnbrechenden Methode gehört hatte, was typisch war. Doch er hatte diese Tage auf Menorca noch nicht einmal bereut, auch wenn er dort drei Kilo abgenommen hatte und trotz des Sonnenscheins kreidebleich nach Hause gekommen war. Denn seitdem konnte er die Fehler seiner Chefin mit Röntgenblick entlarven. Fehler, die im Team vielleicht noch gar nicht aufgefallen waren, die niemanden störten, die aber auf lange Sicht der gesamten Mordkommission erheblich schaden konnten. Fehler, die Wencke Tydmers so beliebt machten, weil sie aus menschlichen Schwächen resultierten.
Er behielt sie im Blick. Er wollte ihr nicht wirklich schaden, beileibe nicht. Vielleicht half es ihr sogar, wenn er hier erst einmal richtig aufräumte. Vor allem dieses so genannte Meeting am Montagmorgen, wenn sie alle fast schweigend über ihren Kaffeepötten saßen, war in Axel Sanders’ Augen ein fatales Ausleben der mangelnden Motivation am Wochenanfang. Deswegen hatte er es heute Morgen anders gemacht. Statt Kaffee klare Anweisungen: »Greven und Strothmann, Sie tragen nochmal alles Wissenswerte über den Betrunkenen im Hager Kiesteich zusammen und übergeben die Unterlagen umgehend der Staatsanwaltschaft mit Antrag auf Einstellung des Verfahrens. Gut, das ist jede Menge Schreibarbeit, ich weiß, aber je eher Sie damit beginnen, desto schneller liegt der Fall bei den Akten.« Die ersten bösen Blicke trafen ihn, doch er ignorierte sie, wandte sich stattdessen den anderen zu. »Blomberg und Muttge, besuchen Sie noch einmal den Feuerwehrhauptmann in Norden, diesen Hittekamp, befragen Sie ihn erneut wegen des Stallbrandes in Großheide. Wir sollten schon ausschließen können, dass es Brandstiftung und eventuell versuchter Totschlag war.«
Die schlechte Laune war seinen Leuten ins Gesicht geschrieben. Dafür befand sich die seine auf einem ersten Höhepunkt, er erwartete in den nächsten vierzehn Tagen noch einige dieser kurzen Momente vollkommener Selbstzufriedenheit.
Endlich war es so weit: Das Telefon klingelte, und er konnte abnehmen und sich mit »Polizeipräsidium Aurich, Leitung der Mordkommission, Axel Sanders« melden.
»Hallo, bin ich da richtig? Man hatte mir gesagt, dass ich mit einer Hauptkommissarin Tydmers verbunden würde.«
Eine junge, etwas fiepsige Frauenstimme, sicher ein privater Anruf für Wencke Tydmers, aber so etwas würde es bei ihm nicht geben.
»Bedaure, Frau Tydmers ist mit ihrem Schatz auf die Kanaren geflogen. Sonne, Strand und Meer, Sie verstehen?«
Die Frau am anderen Ende zögerte kurz. »Sind Sie die Vertretung?«
»So ist es. Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Gleich legt sie beschämt auf, dachte Sanders.
»Hier ist die Polizeidienststelle Norderney, Kommissarin Lütten-Rass. Es geht um einen Todesfall hier auf der Insel, wahrscheinlich Selbstmord.«
Sanders spürte, wie ihm der Schweiß am Hemdkragen emporkroch, es war aber auch wirklich heiß heute und das Büro hatte keine Klimaanlage. »Aha«, sagte er nur knapp, weil ihm für mehr Worte einfach zu warm war.
»Man hat noch versucht, zu reanimieren. Sprung von der Sonnenterrasse der Maritim-Klinik, da war jede Menge Fachpersonal zur Stelle. Die inneren Verletzungen waren aber zu schwer, der Tod ist gegen Mitternacht eingetreten.«
»Soso, dann müssen wir wohl mal jemanden auf die Insel schicken. Ich werde zwei Kollegen für Sie abstellen, in Ordnung?«
Die fast kindlich hohe Stimme bekam einen aufgeregten Unterton, es sollte wohl wütend klingen, kam aber eher hysterisch in Sanders’ Ohr an. »Nun seien Sie mal nicht so gönnerhaft, werter Kollege. Mir ist schon klar, dass niemand sich darum reißt, auf die Insel zu kommen. Aber wie gesagt: Wir haben hier
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