Der Brombeerpirat
eine Leiche, und wir müssen schnell klären, wie die Person zu Tode gekommen ist, weil uns sonst nämlich die Kurgäste und die Vermieter aufs Dach steigen. Wir haben Hochsaison, da können wir absolut keine Toten gebrauchen. Verstanden?«
Sanders lachte leise und drehte den Hörer zur Seite, damit die kleine Piepsmaus auf Norderney seinen Spott nicht mitbekam. »Verstanden!«
»Sie können die Insel heute noch wieder verlassen, die letzte Fähre geht erst abends um elf. Ihre Leute werden gar nicht merken, dass sie auf einer Insel sind, versprochen. Aber ich bitte Sie, kommen Sie so bald wie möglich, am besten schon mit dem Schiff ab Norddeich um 13.30 Uhr. Ist das möglich?«
»Ich denke schon«, sagte Sanders. »Sagen Sie noch, wer ist denn zu Tode gekommen? Ein Kurgast, ein Insulaner? Jung oder alt? Männlich oder weiblich? Solche Informationen sollten Sie der Mordkommission beim nächsten Mal direkt am Anfang des Gespräches und ohne Nachfrage mitteilen, jun ges Fräulein, damit wir uns hier ein Bild machen können, was uns erwartet.«
Er hörte die Kollegin nach Luft schnappen und hielt sein Ohr ein wenig auf Abstand, falls sie vorhatte, in dieser Stimmlage gleich loszuschreien. Doch sie blieb ruhig. »Insulaner, jung, weiblich. Der Name der Toten ist Leefke Konstantin, sie war erst vierzehn. Reicht das?«
Sanders fehlten für einen kurzen Augenblick die Worte.
04.
Im Prinzip hatte Wencke die Konfrontation nur hinausgezögert.
Ansgar war nun sicher schon am Flughafen. Und sie stand in Norddeich am Fähranleger und wartete inmitten einer Menschentraube darauf, dass die große weiße Fähre ihre Passagiere von Bord gehen ließ, damit sie mit der kleinen Tasche in der Hand – viel hatte sie nicht mitgenommen – das Schiff um halb zwei nach Norderney nehmen konnte.
»Es tut mir wirklich Leid, Ansgar. Meine Mutter hat mich geradezu angefleht, dass ich selbst auf die Insel gehe und nach dem Rechten schaue. Es wird sicher nicht lange dauern, mein Bruder taucht wahrscheinlich heute noch unversehrt auf, und dann komme ich nach.« Feige, feige, feige war sie gewesen. Aber sie hatte weder die Zeit noch die Lust gehabt, mit Ansgar ein Gespräch über Gefühle und Beziehungen zu führen, womöglich noch in seinem Wagen auf der Straße vor ihrem Haus. Und ganz aus der Luft gegriffen war die Geschichte ja nicht, die sie ihm nun aufgetischt hatte. Ihr Gewissen hatte sich jedenfalls noch nicht bei ihr gemeldet.
»Liebe Passagiere, aufgrund eines technischen Defektes müssen wir Sie leider bitten, die hier liegende Frisia V nicht zu betreten. Die Abfahrt nach Norderney wird sich um voraussichtlich eine halbe Stunde verzögern und vom Juistanleger am rechten Ende des Molenkopfes abgehen. Wir bitten Sie um Verständnis.«
Die Lautsprecherdurchsage wurde noch ein paarmal wiederholt, sie schallte blechern aus jeder Ecke des gesamten Hafenbereichs, doch man konnte kaum noch ein Wort verstehen, da die Menschen in ein hektisches, aufgeregtes Schimpfen verfallen waren.
»Das fängt ja gut an …«
»Unverschämtheit!«
»Was die einem hier so alles zumuten …«
Wencke machte sich nichts daraus. Sie schlenderte mit der Tasche direkt an der Kaimauer entlang in die Richtung, in der sich der geschäftige Hafen mit einem schmalen Schlauch aus Steinwällen in das Meer erstreckte. Ständig fuhren Autos im Kreis herum, in einigen saßen Familien zwischen ihrem Reiseprovi ant, in den anderen, den nicht ganz legal umgerüste ten Golf GTIs und röhrenden 3er BMWs, schaukelten stoppelhaarige Führerscheinneulinge mit ihren dau ergewellten Beifahrerinnen zu basslastigem Lärm von der umgebauten Rückbank.
Die »Molenheizer« wurden sie bei den Kollegen in Norden genannt, erinnerte sich Wencke und grinste. Es roch mehr nach Abgasen als nach Wattenmeer. Für einen kurzen Augenblick schlich sich ein kleiner Funken Vorfreude auf die Insel in Wenckes Herz.
Sie hatte Jasper noch nie besucht. Er wohnte nun schon seit drei Jahren dort, aber ihr Verhältnis war nicht so innig, dass sie ihn unbedingt auf Norderney hätte besuchen müssen. Zumal seine Freundin Rika nicht gerade zu ihren Busenfreundinnen zählte. Sie arbeitete als Krankenschwester in einer dieser riesigen Inselkliniken, ob sie nun Oberschwester war, wusste Wencke nicht genau, doch ihr resolutes Auf treten und dieser »Wie geht es uns denn heute«-Ton hätten Rika auf jeden Fall für diesen Job qualifiziert. Rika war es auch, die Wenckes Bruder zu einem Insulaner umgeschult
Weitere Kostenlose Bücher