Der Brombeerpirat
hatte. Doch er profitierte davon, Jasper war Fotograf, aber eigentlich hatte sich noch nie jemand für seine Bilder interessiert. Bis er nach Norderney kam und Dünen, Strand und Himmel ablichtete. Jetzt produzierte er Postkarten, Prospektauf nahmen und Inselkalender und verdiente so gut wie nie zuvor in seinem Leben. Wencke freute sich schon ein wenig für ihn. Und Wenckes Mutter war mächtig stolz.
Auf Jasper war sie schon immer stolz gewesen. Schon damals, als sie mit der ganzen Familie in der Schule antanzen mussten, weil Jasper die Wände im Flur mit Graffiti besprüht hatte. Statt kleinlaut den Schaden über die Haftpflichtversicherung abzuwickeln, fotografierte ihre Mutter die Schmierereien und verewigte sie vergrößert und eingerahmt im Hausflur, wo bei anderen Eltern immer die Einschulungsfotos hingen.
Wencke hatte als Teenie ihren Bruder diskret, aber innig gehasst. Er hatte diese Manier, jedem seine unkonventionelle Art aufzuzwingen: Mitte der Achtziger zelebrierte er eine öffentliche Verbrennung ihres lebensgroßen Bravo-Starschnittes von Duran-Duran im Garten, er hatte sogar Freunde aus seiner Schauspielgruppe dazu eingeladen. Und bei ihrer Abiturfeier, kurz bevor sie vom Schuldirektor das Zeugnis überreicht bekam, war er auf die Aulabühne gesprungen und hatte ins Mikrophon gerülpst. Sie hatte ihn damals regelmäßig zum Teufel gewünscht.
Als sie jedoch jetzt daran dachte, sie saß inzwischen auf den Stufen am Molenkopf und sah in der Ferne die Häuser von Norderney, da spürte sie ein kleines, warmes Stück Blutsverwandtschaft aus ihrem Herz herauswachsen. Heute wurde er vierzig, ihr Bruder Jasper, der verrückte Kerl. Sie hatte mit einem Mal riesige Lust, ihn heute ganz fest in die Arme zu nehmen und mit ihm anzustoßen auf die vergangenen Tage, die zu schade zum Vergessen waren.
»Kling-klang-klong«, dröhnte es aus den trichterförmigen Lautsprechern über ihr. »Liebe Fahrgäste nach Norderney, die Frisia I nach Norderney wird in wenigen Minuten ablegen. Bitte beachten Sie, dass wir keine PKWs mehr aufladen können. Die nächste Abfahrt geht in einer halben Stunde wieder ab dem Norderneyanleger.«
Wencke hatte tatsächlich die Zeit vergessen. Der Blick auf das Wattenmeer und die Inseln am Horizont, dazu ein weicher, streichelnder Wind und die Augustsonne auf der Haut, da konnte so etwas passieren. Sie erhob sich von der Treppe und ging die wenigen Schritte zur Fähre etwas schneller, als es ihrer Urlaubsstimmung entsprach. Die schimpfenden Menschenmassen waren anscheinend bereits alle an Bord, die Frisia I war zwar riesig, aber trotzdem nahezu überfüllt. Grauhaarige Rentnerinnen in kreischbunten Blusen aßen Bockwurst im Stehen. Eine über forderte Zwillingsmutter machte gerade ihren Zeitung lesenden Ehemann zur Schnecke: »Nun tu du auch mal was, dafür fahre ich nicht in die Ferien, dass ich mich weiterhin um alles allein kümmern soll.« Recht hatte sie, fand Wencke. Dann setzte sie sich in der kargen Eingangshalle auf den genoppten Fußboden und rauchte eine Zigarette. Endlich Urlaub!
05.
»Wo ist denn das Wasser?« Axel Sanders ärgerte sich. Erstens hatte er sei nen Kollegen so viel Arbeit aufge halst, dass er nun selbst nach Norderney übersetzen musste. Zweitens hatte die Reederei einen riesigen Auf stand in Norddeich veranstaltet wegen eines technischen Defektes, der sich auf Anfrage bei dem zuständigen Fahrdienstleiter lediglich als verstopfte und ein we nig übergelaufene Damentoilette herausstellte. Diese Lächerlichkeit hatte ihn und Britzke eine halbe Stunde Zeit gekostet, die sie unter unzumutbaren Bedingungen am Hafen verbringen muss ten. Sanders hatte sich bereits den Text für die schriftliche Beschwerde zurechtgelegt. Und drittens hatte er im unteren Salon keinen Sitzplatz mehr bekommen, obwohl er eigentlich vorgehabt hatte, eine Kleinigkeit zu essen. Stattdessen stand er nun auf dem Schiffsdeck zwischen voll gepackten Autos und starrte auf den Schlick links und rechts der Fahrrinne.
»Norderney kann man auch bei Niedrigwasser an laufen. Und zur Zeit haben wir gerade Niedrigwasser«, meinte Britzke wieder mit seinem Allgemeinwissen.
»Meine Güte, das riecht aber.«
»Wattenmeer eben!« Der Kollege hatte es gut. Sei ne Frau hatte ihm heute Morgen ein belegtes Bröt chen zum Mittagessen eingepackt, Salami und Käse, ein Salatblatt dazwischen, es sah appetitlich aus.
Er hatte weder Frau noch Stulle, da er es norma lerweise vorzog, in der Mittagspause allein
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