Der Bund der Drachenlanze - 10 Ellen Porath
Abgrund! – irgendein idiotisches Lied, einen Abzählreim zu
einer einfachen Melodie.
Aus einer Wiege in der Ecke drang ein Weinen, und die
rosaweiße Kitiara wischte ihre mehligen Hände an der
Schürze ab und hob ein etwa neun Monate altes Baby hoch.
Es war kahl wie eine Murmel – aber was der echten Kitiara
in die Augen sprang, waren die riesigen, spitzen Ohren des
Babys und seine Augen, die so schräg waren, daß es sie
kaum aufbekam. Wie konnte ein zu einem Viertel elfisches
Baby noch elfischer als sein halbelfischer Vater aussehen?
Als die Traumkitiara sich in den Schaukelstuhl setzte, um
das Baby auf ihrem schwangeren Bauch an die Brust zu
legen, schlug irgendwo eine Tür zu, und die Küche füllte
sich mit schreienden Kindern – alle mit unglaublich großen, spitzen Ohren. Sie waren unablässig in Bewegung wie
ein Schwarm Fische. Es mußten Hunderte sein!
Kitiara hatte gesehen, wie verwundete Kameraden röchelnd an ihrem eigenen Blut erstickten, ohne viel mehr zu
empfinden als Ärger, daß sie sich hatten töten lassen. Jetzt
aber war sie wie gelähmt vor Entsetzen bei der Vorstellung,
eine solche Armee von Kindern am Rockzipfel hängen zu
haben. Die echte Kitiara würde sich lieber einer
Goblinstreitmacht stellen als diesem Haufen Rotznasen.
Die Traumkitiara stand auf und legte das immer noch
nuckelnde Baby auf den Tisch, während sie einen Keramiktopf öffnete und Kekse an die drängelnden Kinder verteilte
wie ein Falschspieler Karten, die er aus dem Ärmel zieht.
Alle Mädchen trugen luftige Kleidchen in Pink und
Weiß. Jedes trug eine fette Elfenpuppe, keines schwang
einen Spielzeugschild oder eine Streitaxt. Die Jungen hingegen sprangen in winzigen Hirschlederanzügen herum
und hielten kleine Bögen in ihren pummeligen Händen.
Dann hörte man wieder die Tür zuschlagen, und ein
Brüller ging durch das Haus. Die Kinder stoben auseinander wie Blätter im Wind, um sich dann hinter ihrer Mutter
wieder zu versammeln. Tanis stand auf der Schwelle. Aber
dieser Tanis war dick, rot und ungewaschen – ein sehr betrunkener Halbelf, der rülpste, als er sich an den Türrahmen lehnte. Ungefähr so angewidert wie die wirkliche Kitiara betrachtete er die Kinderschar.
»Wo ist mein Essen?« rief er. »Ich habe Hunger.«
»Du bist monatelang nicht zu Hause gewesen!« kreischte
die Traumkitiara. »Wo bist du gewesen, du Rumtreiber?«
»Überall und nirgends.« Der Traumtanis sah sie genauer
an und höhnte: »Was? Wieder schwanger? Gütige Götter,
Frau!«
Die wahre Kitiara in ihrer Ecke versuchte, der Traumkitiara, der die Tränen auf den Rock tropften, Ratschläge zu
geben. »Zieh dein Schwert!« wollte Kit rufen. »Schlitz ihn
auf! Setz deine Bälger im nächsten Waisenhaus ab, und
dann raus hier!« Aber sie brachte kein Wort heraus.
Die Traumkitiara drehte sich um und reckte sich stöhnend vor Anstrengung nach dem blanken Schwert, das an
der Wand über dem Herd hing. Die echte Kitiara war überglücklich. Doch ihr Traumzwilling nahm die Klinge, die
Dutzende von Leben gerettet und unzählige andere genommen hatte, nur zur Hand, um ein selbstgebackenes
Brot aufzuschneiden. Dann scheuchte sie ihren Nachwuchs
an den Abendbrottisch. Geschäftig führte sie den betrunkenen Tanis von der Tür zum Kopfende des Tisches. »Wieder Eintopf?« beschwerte er sich.
Wortlos und ungesehen erschauerte die wahre Kitiara.
Wenn es das war, was sie erwartete, würde sie sich lieber
zu Tode martern lassen.
Obwohl da, ehrlich gesagt, wohl kein Unterschied bestand.
Kapitel 4
Macht der Juwelen
Als Kitiara erwachte, hatte der Ettin sie wieder über sich
geworfen, und sie starrte die nahezu senkrechte Felswand
des Fieberbergs hinunter. Einige hundert Fuß tiefer breitete
sich der Boden des Tals aus. Aus dieser Entfernung wirkte
das Tal wie ein ganz gewöhnlicher Wald, gar nicht wie der
entsetzliche Düsterwald. Kitiara schloß die Augen, um einen Schwindelanfall zu vertreiben.
Als sie sie wieder aufmachte, hatte sie ihre Sinne beisammen. Schreiend kämpfte sie gegen die Umklammerung
des Ettins an. Sie war zwischen seinen beiden Stiernacken
eingeklemmt. »Du Hornochse!« schimpfte die Kämpferin,
während sie auf den Rücken des Ettins eintrommelte. »Laß
mich los! Ich kriege keine Luft!«
Res-Lacua ließ sie auf einen engen Sims plumpsen. Einen
Moment lang hing Kitiara an der Bergflanke, und die Welt
unter ihr drehte sich. Dann konnte sie wieder klar sehen
und erkannte das besorgte Gesicht der
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