Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
horchte. Alles war still, niemand würde sie stören. Sie sah sich um und entdeckte die hölzerne Truhe, in der Karolina den Schlüssel zum Skriptorium, wie sie naiv glaubte, sicher verwahrte. Bereits zweimal hatte Laetitia die Bibliothekarin beobachtet, wie sie den Schreibsaal sorgfältig verschlossen und noch vor dem Nachtmahl den Schlüssel in der Truhe hatte verschwinden lassen. Vorsichtig öffnete Laetitia den Deckel. Ihr schlechtes Gewissen beruhigte sie damit, dass sie für einen guten Zweck handelte.
Wenig später fand sie sich vor der endlosen Bücherreihe im Skriptorium wieder und entzündete drei Kerzen. Wenn sie sich doch nur gemerkt hätte, an welcher Stelle das Buch über Wappenkunde seinen Platz hatte! Gleich am Abend ihres Eintreffens im Stift hatte sie es gesehen. Es stand neben dem Buch mit den magischen Formeln. Seltsam, heute Abend kam es ihr beinahe vor, als befänden sich weniger Bücher in den Regalen als am Abend ihrer Ankunft. In der Tat, rechts außen klafften deutliche Lücken. Ob man so viele Bücher an andere Klöster verliehen hatte? Oder hatte man gar einige Exemplare verkaufen müssen? Wie dem auch sei, das sollte sie selbst nicht kümmern. Andere Gründe führten sie her: Das Buch der Wappenkunde galt es zu lesen.
Titel um Titel zog sie hervor, mindestens dreißig waren es, bis sie endlich fündig wurde. Eine Staubschicht hatte den glänzenden Goldschnitt zu einem matten, gelben Rand verkommen lassen. Zweifellos fand dieses Buch selten den Weg in die Hand eines Lesers. Das erstaunte nicht wirklich. Wer von den Nonnen sollte schon ein aufrichtiges Interesse am Studium von Wappen zeigen? Für Laetitia jedoch konnte es heute Nacht keine packendere Lektüre geben. Sie wollte alle Wappen finden, die einen Turm als zentrales Bild oder Beizeichen führten. Laetitia blies den Staub vom Einband und trat an ein Pult heran. Just in dem Moment, als sie das Buch auf der Schreibfläche ablegen wollte, flatterten aus dem Einband drei Blätter zu Boden. Was war das denn? Offenbar hatte jemand eine Schrift zwischen den Seiten dieses gemeinhin auf wenig Aufmerksamkeit stoßenden Buches verwahrt. Gar nicht dumm. Konnte es einen besseren Hüter für ein Geheimnis geben, als die Seiten eines vergessenen Buches?
Neugierig bückte sich Laetitia nach den Blättern und faltete sie vorsichtig auf. Tinte von tiefstem Schwarz hatte das Papier von grober, billiger Qualität eingesogen. Nur einer flüchtigen Betrachtung bedurfte es, bis Laetitia die Aufzeichnungen als ein Verzeichnis von Lehen, Schenkungen und Güterübertragungen erkannte. Es umfasste sowohl Güter im Einflussbereich des Klosters als auch Liegenschaften im gesamten Erzstift, das sich bis über Koblenz hinaus erstreckte. Fein säuberlich fanden sich hier Namen von Lehnsgeber und -nehmer, Schenker und Beschenktem sowie Beschreibungen des jeweiligen Guts. Laetitia zog den Mund kraus, da man nicht gerade von einer ausgesprochen spektakulären Entdeckung reden konnte.
Entschlossen schlug sie den Einband des Buchs über Wappenkunde auf, so heftig, dass der Staub wirbelte. Auf den Heroldsbildern zeigten sich Lindwürmer, Bären, Löwen und Rosen in leuchtenden Farben sowie hin und wieder Türme. Bald schwirrte ihr der Kopf, weil die Erschöpfung ihren Tribut forderte. Laetitias Lider lasteten schwer wie Blei auf ihren Augen. Sie streckte ihren Rücken durch. Einige wenige Minuten wollte sie sich ausruhen, bevor sie weiterforschen würde. Ihre Glieder schmerzten. Sie legte ihren Kopf auf dem Tisch auf ihren verschränkten Armen ab und schloss die Lider. »Bloß nicht einschlummern«, wisperte sie vor sich hin, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel.
Kapitel 11
Im ersten Licht des nächsten Morgens riss der gellende Schrei eines Hahns Laetitia aus dem Schlaf. Erschrocken fuhr sie hoch. Sie war verwirrt und wusste zunächst nicht, wo sie sich befand. Während sie im Halbdunkel um sich schaute, versuchte sie, sich zu besinnen. Als ihre Augen die Bücherreihen in den Regalen ausmachten, kehrte die Erinnerung endlich zurück. Träge erhob sie sich vom Stuhl und reckte ihre steifen Gliedmaßen. Von draußen hörte sie geschäftiges Treiben. Sie würde sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, um ihr Fehlen im Dormitorium zu erklären. Als sie das Fenster leise einen Spalt breit öffnete, strömte der verlockende Duft frischen Brotes herein. Im Backhaus werkelte man schon emsig und zwei Mägde zogen einen Karren hinter sich her, der unter der Last
Weitere Kostenlose Bücher