Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
Schweigen. Hirad sah von einem Gefährten zum anderen, doch keiner wusste etwas zu sagen.
»Es ist unglaublich«, erklärte Hirad schließlich. »Zehn Jahre. Zehn Jahre sind wir zusammen, und ihr trefft die wichtigste Entscheidung eures Lebens – meines Lebens –, während ich geschlafen habe.« Er war zu empört, um die Stimme zu erheben, und sprach scheinbar völlig ruhig. Doch er wusste auch, dass es im Grunde nicht der Zorn war, der ihn bewegte. Es war eine tiefe, bittere Enttäuschung. Die Konsequenz, die sich unausweichlich aus der Gründung des Raben ergab. Die Auflösung. Seltsamerweise hatte Hirad zu Anfang nie geglaubt, dass es überhaupt so lange halten würde. Die Zukunft war bedeutungslos gewesen. Bis heute. Jetzt brach seine Welt rings um ihn zusammen, und das machte ihm Angst. Große Angst.
»Es tut mir leid, Hirad.«
»Ich wollte eigentlich nicht mehr, als dass man mich nach meiner Meinung fragt, Sirendor.«
»Ich weiß. Aber die Entscheidung wurde nicht gestern Abend gefällt. Da wurde sie nur bestätigt.«
»Ihr habt mich nicht gefragt.« Hirad stand auf und ging zur Tür. Er wollte jetzt trinken und lachen. »Ich sag euch was«, erklärte er. »Ihr Frührentner bezahlt das Fest, und ich versuche, euch zu verzeihen.«
Stylianns Augen funkelten, und sein Gesicht lief rot an. In der Gefängniszelle unter seinem Turm sanken drei Magier auf ihren Stühlen in sich zusammen. Sie waren zu erschöpft, um respektvoll vor ihrem Meister aufrecht zu stehen.
»Sagt es mir noch einmal.« Stylianns Stimme war leise und ruhig, doch sie erfüllte mit ihrer Kraft die kleine Kammer.
»Wir sind erst seit drei Stunden wirklich sicher, und auch da mussten wir noch ein letztes Mal alles überprüfen. Wir wollten keinen Anlass zur Beunruhigung geben, solange wir nicht absolut sicher waren«, berichtete einer von ihnen, ein alter Magier, der sein ganzes Leben dieser einzigen Aufgabe gewidmet hatte.
»Beunruhigung?«, wiederholte Styliann. Seine Stimme schnappte beinahe über. »Das größte Übel in Balaias Geschichte ist verschwunden. Mich zu beunruhigen, sollte die geringste Eurer Sorgen sein.«
Die drei Magier wechselten nervöse Blicke.
»Leider nicht nur verschwunden, mein Lord. Sie sind nicht mehr im Käfig, und wir glauben, dass sie sich auch nicht mehr im interdimensionalen Raum befinden.« Der alte Magier schluckte schwer. »Wir glauben, dass sie mit Wesen und Geist nach Balaia zurückgekehrt sind.«
Das Schweigen, das darauf folgte, schmerzte in den Ohren. Stylianns Atem zischte zwischen den halbgeöffneten Zähnen. Er sah sich noch einmal in der kleinen Kammer um, wo Zeichnungen und Darstellungen des Dimensionsraums, des Spruchs und der zugehörigen Gleichungen jeden freien Fleck an den Wänden bedeckten. Auf dem abgewetzten Holztisch lagen Notizbücher herum. Die drei in einem losen Halbkreis aufgestellten Stühle boten jeweils einem schockierten Magier Platz, und alle drei schauten zu ihm auf, wie er an der Türe stand, Nyer auf einer Seite neben sich, und Laryon auf der anderen. Er musste den Kopf nicht nach links oder rechts wenden, das war überflüssig. Die Tragweite dessen, was sie gerade gehört hatten, jagte Schauer durch die Manakanäle.
»Wie lange sind sie schon verschwunden?«, fragte er. Dies war die Frage, die sie am meisten gefürchtet hatten.
»Wir können … das können wir nicht mit Gewissheit sagen«, brachte der älteste Magier heraus.
Styliann nagelte ihn mit Blicken fest. »Wie bitte?« Wieder wechselten die drei unbehagliche Blicke. Endlich ergriff die jüngere Frau das Wort.
»So war es eben mit den Wächtern, mein Lord«, sagte sie. »Alle drei Monate werden die Sprüche gewirkt und die Berechnungen durchgeführt, wenn gewisse Konstellationen uns die größtmögliche Gewissheit versprechen.«
Styliann ließ den alten Mann nicht aus den Augen. »Wollt Ihr mir damit sagen, dass die Wytchlords womöglich schon vor drei Monaten in Balaia angekommen sein könnten?«
»Sie waren im Käfig, als wir das letzte Mal die Sprüche gewirkt haben«, erklärte die Frau. »Jetzt sind sie nicht mehr da.«
»Ja oder nein.« Styliann glaubte fast, er könne ihre Herzen pochen hören. Dann wurde ihm bewusst, dass er seinen eigenen Herzschlag wahrnahm.
»Ja.« Der alte Mann wandte den Blick ab. Er hatte Tränen in den Augen. Styliann nickte.
»Nun gut«, sagte er. »Säubert den Raum, eure Arbeit hier ist beendet.« Er wandte sich an Nyer. »Uns bleibt keine andere Wahl.
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