Der Canyon
abwärts führte und das Rinnsal mit sich nahm. Panik stieg in ihr auf; jeden Moment würde der Entführer unten ankommen. Sie folgte dem Wasser in der Hoffnung, dass es sie zu einem Ausgang führen würde, und watete durch viele Pfützen. Der Tunnel führte weiter bergab und verlief dann ebener. Das Wasser wurde tiefer, und sie merkte, dass es sich hier sammelte; bald reichte es ihr bis zur Hüfte. Als sie um die nächste Ecke bog, erkannte sie den Grund dafür: Ein Einsturz hatte den Tunnel vollständig blockiert und das Rinnsal aufgestaut. Das Wasser kroch durch kleine Ritzen zwischen den scharfkantigen Felsbrocken weiter, aber es gab keine Öffnung, durch die sie selbst hindurchgepasst hätte.
Sie fluchte leise. Gab es noch einen Stollen, den sie übersehen hatte? Im Grunde wusste sie schon, dass es keinen gab. In den vergangenen fünf Minuten hatte sie alles von dieser Mine gesehen, was noch zugänglich war. Mit anderen Worten, sie saß in der Falle.
Sie riss mit zitternden Fingern ein weiteres Streichholz an und suchte verzweifelt nach einem Ausweg, einem Tunnel oder einer Öffnung, die sie vielleicht übersehen hatte. Sie verbrannte sich die Finger, fluchte, zündete ein weiteres Streichholz an. Es musste doch einen Weg hier heraus geben.
Wieder ging sie zurück, zündete ein Streichholz nach dem anderen an, bis sie in dem anderen Stollen wieder auf den Einsturz stieß. Der Gang war von einer kompakten Masse versperrt, in der sie keine offensichtlichen Lücken erkennen konnte. Sie entzündete weitere Streichhölzer und erkundete trotzdem die angehäuften Felsbrocken, suchte nach einem Loch, durch das sie sich zwängen könnte. Aber es gab keines.
Sie zählte ihre Streichhölzer. Noch sieben. Sie riss eines an, blickte auf – und sah das Loch in der Decke. Es war Wahnsinn, auch nur daran zu denken. Das Licht der kleinen Flamme war zu schwach, um weit hineinzureichen, aber es sah so aus, als wäre da oben Platz genug für sie, wo sie sich zumindest verstecken könnte – wenn sie bereit war, das Risiko einzugehen und auf diesen steilen Haufen wackliger, loser Felsbrocken zu steigen.
Das Risiko war irrsinnig. Während sie dastand, zitternd und zaudernd, und das Licht am Ende des Hölzchens erstarb, kam klappernd ein kleiner Stein aus dem Loch gerollt, hüpfte wie eine Kugel im Flipper über das Gewirr aus Balken und Felsen und blieb zu ihren Füßen liegen.
Das war es also. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Sie konnte zurückgehen und es mit dem Entführer aufnehmen, oder sie konnte es riskieren, in ein Loch zu kriechen, das durch einen Stolleneinsturz entstanden war.
Das Streichholz erlosch. Sechs blieben ihr noch. Sie nahm zwei auf einmal aus der Schachtel, zündete sie gleichzeitig an und hoffte, jetzt genug Licht zu haben, um tiefer in das Loch hineinschauen zu können. Die Flämmchen brannten gut, doch es reichte immer noch nicht, um jenseits des Gewirrs aus Felsbrocken und Balken etwas zu erkennen.
Die Streichhölzer erloschen.
Keine Zeit mehr. Sie entzündete ein weiteres Streichholz, klemmte es sich zwischen die Zähne, hielt sich an einem Brocken in dem Haufen fest und begann zu klettern. Zugleich hörte sie etwas – eine ferne Stimme, die höhnisch durch die felsigen Stollen hallte.
»Du hast keine Chance, Miststück. Ich komme!«
17
Corvus hockte im Brustkorb des Triceratops, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Der Mann stand keine drei Meter von ihm entfernt. Er schluckte und versuchte, den ausgedörrten Mund zu befeuchten. Er hörte eine Hand über Knochen streichen, das leise Scharren eines Schuhs auf dem Zementboden, das kaum wahrnehmbare Knirschen von Fossilienstaub unter der Sohle des Mannes, der sich langsam näherte. Wie zum Teufel gelang es dem Kerl, sich im Dunkeln so sicher zu bewegen?
»Ich kann Sie sehen«, sagte die leise Stimme, als habe er Corvus' Gedanken gelesen, »aber Sie können mich nicht sehen.«
Corvus' Herz fühlte sich an wie eine Pauke: Die Stimme war jetzt unmittelbar neben ihm. Seine Kehle war so trocken, dass er kein Wort herausgebracht hätte, selbst wenn er hätte sprechen wollen.
»Sie sehen albern aus, wie Sie da so hocken.«
Ein weiterer Schritt. Nun konnte er tatsächlich das teure Aftershave des Mannes riechen.
»Ich will nichts weiter als den Fundort. Ganz gleich, in welcher Form: GPS-Koordinaten, den Namen einer Formation oder eines Canyons, so etwas in der Art. Ich will wissen, wo der Dinosaurier ist.«
Corvus schluckte, bewegte sich leicht.
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