Der Canyon
Tradition, weißt du? Es ist auch notwendig – das sagt einem, wer man ist, und bekräftigt die eigenen Allianzen. Kerle ohne Tattoo müssen sich am Ende immer bücken. Aber ich wollte nicht den üblichen Totenkopf und Sensenkram. Ich wollte eine Tätowierung, die für mich steht. Mein Tattoo sollte allen sagen, dass ich mich für niemanden bücken würde, dass ich ein ganzer Kerl bin, dass ich auf niemanden angewiesen bin. Deswegen habe ich mir einen T-Rex ausgesucht. Auf diesem Planeten hat es nie etwas Gefährlicheres gegeben. Aber dann musste ich eine Vorlage finden. Wenn ich einfach irgendwen auf meinen Rücken losgelassen hätte, wäre ich am Ende mit Godzilla oder irgendeinem Pfusch dagestanden, wie sich irgendein dämlicher Knacki einen T-Rex eben so vorstellt. Ich wollte es richtig haben. Ich wollte eine wissenschaftlich genaue Darstellung.«
Er strengte sich mächtig an, die Rückenmuskeln quollen grotesk hervor, und die Kiefer des T-Rex öffneten und schlossen sich.
»Also habe ich an den weltweit renommiertesten T-Rex-Experten geschrieben. Natürlich hat er meine Briefe nicht beantwortet. Warum sollte ein Mann wie er mit einem verurteilten Mörder in Pelican Bay korrespondieren?« Er lachte leise und spannte erneut den Rücken. »Schau dir das gut an, Sally. Es gab nie eine genauere Abbildung des T-Rex – in keinem Buch und in keinem Museum. Da steckt der aktuellste Forschungsstand drin.«
Sally schluckte und hörte zu.
»Na ja, nachdem mir ein Jahr lang kein Mensch geantwortet hatte, schrieb mir auf einmal dieser Dinosaurierexperte. Wir hatten einen interessanten Briefwechsel. Er hat mir die jüngsten Forschungsergebnisse geschickt, sogar Zeug, das noch gar nicht veröffentlicht war. Er hat mir Zeichnungen geschickt, die er eigenhändig angefertigt hatte. Ich habe es dann von einem wahren Tattoo-Experten machen lassen. Während der T-Rex zum Leben erweckt wurde, hatte der Dino-Mann draußen immer eine Antwort parat, wenn ich mal eine Frage hatte. Er hat sich Zeit für mich genommen. Er hat sich richtig reingehängt und dafür gesorgt, dass dieser T-Rex absolut echt wird.«
Ein weiteres Rollen und Zucken auf seinem Rücken.
»Wir wurden Freunde – beinahe Brüder. Und dann – weißt du, was er dann getan hat?«
Sally brachte mit großer Mühe ein »Was?« heraus.
»Er hat mich aus dem Knast geholt. Ich war zu zehn bis fünfzehn Jahren verurteilt, schwerer Totschlag, aber er hat bei meiner Anhörung für mich gebürgt, mir Geld und einen Job gegeben. Als er mich um einen Gefallen gebeten hat, war ich also nicht in der Position, Nein zu sagen. Weißt du, was das für ein Gefallen war?«
»Nein.«
»Ihm das Notizbuch bringen.«
Sie schluckte wieder und kämpfte gegen eine neue Woge der Furcht an. Er würde ihr all das nie erzählen, wenn er nicht vorhätte, sie umzubringen.
Er hörte auf, die Muskeln spielen zu lassen, drehte sich wieder um und zog sein Hemd über. »Verstehst du jetzt, warum ich mir so viel Mühe mache? Aber nun habe ich erst einmal einen Anruf zu erledigen. Wir sehen uns später.«
Damit drehte er sich um und verließ ihre kleine Gefängniszelle.
19
Als sich der Wagen Tucson näherte, versuchte Tom es erneut mit dem Handy und stellte fest, dass er endlich ein Netz hatte. Er sah auf die Uhr. Halb sechs. Er war länger bei Dearborn geblieben, als er gedacht hatte. Er würde sich beeilen müssen, um den Flug um halb sieben zu schaffen.
Er wählte die Nummer von zu Hause, um kurz mit Sally zu sprechen. Das Telefon klingelte ein paar Mal, dann sprang der Anrufbeantworter an. »Hallo, hier sind Tom und Sally. Tom ist geschäftlich unterwegs, und ich musste unerwartet verreisen, wir können also nicht sofort zurückrufen. Entschuldigung, dass ein paar Reitstunden ausfallen müssen, ich melde mich später hei allen. Bitte hinterlasst uns eine Nachricht, danke.«
Dann folgte der Piepton, und Tom legte auf, überrascht und plötzlich besorgt. Wohin sollte sie plötzlich verreist sein? Warum hatte sie ihn nicht angerufen? Vielleicht hatte sie es versucht – sein Telefon hatte bei Dearborn keinen Empfang gehabt. Rasch hörte er seine Mailbox ab, doch es gab keine neuen Nachrichten.
In wachsender Besorgnis rief er noch einmal zu Hause an und lauschte der Ansage sehr aufmerksam. Sallys Stimme klang überhaupt nicht normal. Er hielt am Straßenrand, wählte erneut und hörte genau hin. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Tom spürte, wie sein Herz hämmerte. Mit
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