Der Cartoonist
verblassten Brief, der
dort eingeklebt war, zu entziffern. Er trug das Datum des 3. Januars 1970. Die
Schrift war unregelmäßig und verschmiert, offenbar hatte die Hand beim
Schreiben gezittert. Außerdem war der Brief voller Rechtschreibfehler; die
meisten Worte waren so buchstabiert, wie sie ausgesprochen wurden. Der
Wortlaut, den Scott rekonstruierte, war folgender:
Lieber
Daddy,
mir geht 's
jetzt viel besser. Die Arzte im Sanatorium sagen , ich kann
jetzt wieder ein normales Leben fuhren. Hab seit zwei fahren nicht mehr
getrunken und noch länger keine Drogen
genommen.
Ich will meine Marissa zurück. Ich weiß, dass du der Vater bist, und das hab
ich auch den Ärzten im Sanatorium gesagt, aber sie braucht ihre Mama jetzt.
Also leg mir bitte nix in den Weg. Wie die Arzte sagen, hob ich immer noch das Sorgerecht. Es sind neun lange Jahre gewesen. Ich
will nicht, dass du ihr so was antust wie mir. In einer Woche bin ich da. Bitte
bereite meine kleine Tochter darauf vor. Sag ihr, wir werden in Boston leben,
in einer hübschen Wohnung nah am Wasser.
Deine
Tochter Marietta
Nicht der
Großvater ... der Vater!
Scott
blätterte um. Auf der nächsten Seite klebte die Buntstiftzeichnung eines
Kindes: Ein primitiv gezeichnetes, mit Strichen angedeutetes Kind kauerte
hinter dem Bein eines großen Strich-Männchens, das ein Messer in der Hand
hielt. Vor ihnen stand eine hässliche Hexe mit langer, von Warzen übersäter
Nase, die eine Flasche in der Hand hielt. Darunter stand in kindlicher Schrift,
bei der sich einige Buchstaben nach hinten neigten: BITTE LASS NICHT ZU DASS
SIE MICH HOLT
Auf der
nächsten Seite klebte ein alter Zeitungsausschnitt vom 30. Januar 1970.
Von ihrem
Vater als vermisst gemeldet: Marietta Rowe, 36, Mutter einer Tochter, Marissa Rowe.
Miss Rowe wurde vor kurzem aus einer Bostoner Rehabilitationsklinik entlassen
und befand sich auf dem Heimweg zu ihrem Kind, für das sie jetzt ihr Sorgerecht
geltend machen wollte. Seitdem ist nichts über ihren Verbleib bekannt. Bislang
hat Nicholas Rowe, Marietta Rowes Vater, für Marissa gesorgt. Bereits kurz nach
Marissas Geburt erhielt er das Sorgerecht für seine Enkelin. Es fehlen jegliche
Hinweise und Spuren, die ...
Der
Zeitungsausschnitt enthielt auch ein Foto, das ebenfalls stark verblichen war.
Ein flaches Gesicht, gezeichnet von
Krankheit und
Alkohol, blickte Scott wie ein Gespenst an Marissas Mutter. Ein düsteres,
grobes, vom Leben betrogenes Gesicht. Am Hals hing ein auffälliges Medaillon,
ein Friedenssymbol, eingefasst in ein silbernes Oval.
Scott zündete
ein Streichholz an und leuchtete damit in die Grube. Das zarte, gelbe Flämmchen
schwankte hin und her und ließ nicht auszulotende Schatten hervortreten.
An der Kehle
des Skeletts baumelten die Kette und das inzwischen verrostete Medaillon.
Der Alte hatte
seine eigene Tochter umgebracht, weil er Marissa nicht mehr hatte hergeben
wollen. Welch seltsame, schreckliche Liebe ... Scott, der fast zu atmen vergaß,
blätterte um. Und stieß auf Zeichnungen.
Erneut
überwältigte ihn das Gefühl völliger Irrealität. Die Zeichnungen zeigten den
Unfall, der vor so langer Zeit passiert war ... Aber aus Sicht des Kindes.
Im ersten
Cartoon streckte sich eine weiße Kinderhand nach dem Kätzchen aus, das sich ihr
spielerisch entzog. Der Schwanz der Katze war steil aufgerichtet, die winzigen
Beine wirbelten blitzschnell und mit großen Sprüngen davon. In der nächsten
Sequenz teilte sich das hohe Gras. Die Verfolgungsjagd ging weiter: Das
Kätzchen war immer leicht voraus, duckte sich, vollführte Täuschungsmanöver und
schoss davon. Dann war die Straße zu sehen, die grellen Scheinwerfer. Dieser
stille, endlose Moment. Metall, das sich auftürmte, glitzerndes Chrom, eine
Wand aus Glas, dahinter ein dämonisches Gesicht, das Scotts eigenes war ...
Und ein
weißhaariges Kind, um dessen Kopf sich ein Heiligenschein aus Blut gelegt
hatte.
Wie kann er
das wissen? Wie stellt er es an, mir so etwas anzutun?
Scott merkte,
wie nach und nach der Wahnsinn von ihm Besitz ergriff, ohne dass er sich
dagegen wehrte. Er blätterte weiter...
... und stieß
auf weitere Zeichnungen.
Ein brennendes
Haus. Eine stattliche Villa. Groß und stolz, genau wie sein Vater gewesen war.
Züngelnde Flammen, die auf und ab tanzten. Eine weitere Zeichnung aus größerem
Abstand, die zeigte, wie sich die Einfahrt in geschwungener Linie von den mit
Säulen eingefassten Toren bis zum Haus erstreckte. Deutlich war die in
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