Der Cellist von Sarajevo
eingeschlossenen und hungernden Menschen wie ihm Geld verdienen können.
Aber dagegen kann er nur wenig tun. Deshalb denkt er nicht mehr an den Marktplatz, denkt nicht mehr an seinen leeren Magen und überquert die Einbahnstraße, die rings um einen Großteil der Altstadt führt. Hier, wo sich das Talbett zwischen den Bergen erstreckt, wird das Terrain eben. Er geht durch eine Gasse, die seit jeher für Autos gesperrt war, wo die Straßencafés Tag und Nacht geöffnet hatten und Menschen jeden Alters anlockten. Er ist sein ganzes Leben lang hierhergekommen. Wohin er auch blickt, alles ist mit Erinnerungen verbunden, Erinnerungen an Erlebnisse und Dinge, die unwiederbringlich verloren sind. Selbst wenn man jedes Haus wieder aufbauen würde, so dass es genauso aussieht wie vorher, wenn nicht besser, kann er sich nicht vorstellen, wie er auf einem bequemen Stuhl sitzen und mit einem Freund Kaffee trinken könnte, ohne an diesen Krieg und alles, was damit einherging, zu denken. Aber vielleicht, denkt er, würde er es gern versuchen. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit. Er weiß, dass er die Hoffnung nicht einfach aufgeben möchte.
Zwei Architekten haben die Strossmayer-Straße gestaltet, der eine die Häuser auf der östlichen Seite, der andere die westlichen. Kenan erinnert sich, dass er als Kind immer hierhergekommen ist, mit seinen Eltern, zwischen Weihnachten und Neujahr, um die Straßendekoration zu bewundern. Einmal trug er einen neuen Mantel und war sehr stolz darauf. Seine Mutter nannte ihn »mein Hübscher«, und selbst seine ältere Schwester, die ihn bei jeder Gelegenheit neckte, sagte, es wäre ein schöner Mantel. Sein Vater hielt ihn an der Hand, als sie die Straße entlangliefen, ab und zu stehen blieben, um die Lichter zu betrachten, und sein Vater sprach mit ihm wie zu einem Erwachsenen über irgendwelche Vorgänge in Europa, die Kenan nicht verstand. Jetzt versteht er nur zu gut, was in Europa vorgeht, und er kann nicht glauben, dass er auf derselben Straße ist, an die er sich erinnert.
Wenn er einen weiteren Häuserblock in Richtung Süden geht, kommt er zu dem nach Osten führenden Teil der Einbahnstraße, die er vorhin überquert hat. Das ist die Hauptachse der Straßenbahn und erstreckt sich nach Osten bis zur Nationalbibliothek, die sich im alten Rathaus befindet. Danach biegt sie nach Norden, anschließend nach Westen und mündet bei der Vrbanja-Brücke, gegenüber von Grbavica, wieder in die alte Trasse. Wenn er sich weiter in Richtung Süden hielte, würde er den Fluss auf der umurija-Brücke überqueren. Irgendwo muss er über die Miljacka, um zur Brauerei von Sarajevo zu gelangen, aber die Cumurija ist für ihn die am wenigsten verlockende Brücke, obwohl sie von seinem Haus aus auf kürzestem Weg zum anderen Ufer des Flusses führt. Sie wurde mit Granaten beschossen, so dass nur mehr das Stahlskelett übrig ist. Zwar kann man sie noch benutzen, wenn man auf den Stahlträgern entlangbalanciert, aber mit den Flaschen ist das schwer, selbst wenn sie leer sind, und außerdem gibt er dort ein leichtes Ziel für die Männer auf den Bergen ab.
Kenan hält sich dicht an den Häusern, wendet sich gen Osten und entschließt sich, den Fluss stattdessen auf der Princip-Brücke zu überqueren. Sie ist zwar zu den Bergen im Süden hin ebenso ungeschützt, aber in einem weitaus besseren Zustand als die Ćumurija-Brücke, so dass er schneller hinüberlaufen kann. Er kommt an den Überresten des Hotel Europa vorbei, einst das nobelste Hotel der Stadt. Mehr als fünfhundert Jahre lang war dort eine Herberge. Bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hieß sie Tashlihan, die Steinerne Herberge. Dann kam der große Brand von Sarajevo. Ein in der Nähe gelegener Lagerraum eines Kaufmanns ging in Flammen auf, die rasch auf das Tashlihan übergriffen, wo sich ein großes Magazin des Militärs mit zig Fässern voller Methylalkohol befand. Einige Fässer explodierten, worauf sich der Brand nach Westen ausbreitete, sechsunddreißig Straßenzüge verschlang und einen Großteil der Altstadt vernichtete. Die Bewohner der Stadt bekämpften die Flammen gemeinsam mit dem Militär und warfen vorsichtshalber die übrigen Fässer mit Methylalkohol in den Fluss. Doch sie waren sich nicht darüber im Klaren, dass Alkohol leichter ist als Wasser, und als sie ihre Pumpen im Fluss ausbrachten, lieferten sie kein Löschwasser, sondern flüssiges Feuer. Als sie ihren Fehler erkannten, war es bereits zu spät und ein
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