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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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ist über hundert Jahre alt, und seit vierzig Jahren werden hier junge Musiker ausgebildet. Eine Harfe steht auf einer Erkerkuppel an der Ecke. Zwischen dem dritten und vierten Stock hat ein Raketensprengkopf ein Loch ins Gemäuer gerissen. Eine weitere Granate hat die Wand im großen Konzertsaal zerschlagen, dennoch hört Kenan von drinnen Klavierspiel. In diversen Teilen des Gebäudes werden unterschiedliche Stücke gespielt, und sie überlagern einander und vermischen sich, so dass man sie manchmal kaum auseinanderhalten kann, ein Missklang aus vielen von Hämmern angeschlagenen Saiten, aber ab und zu hält einer der Spieler inne, schafft Raum für einen anderen, und dann dringen ein paar reine Töne, eine kleine Melodie auf die Straße.
    Ein kurzer Häuserblock noch, dann stößt Kenan auf eine Hauptstraße. Vor dem Krieg hat er hier immer auf die Straßenbahn gewartet, die ihn drei Stationen weiter zur Arbeit brachte. Er ist immer gern Straßenbahn gefahren. Für ihn wie auch für andere war sie eines der deutlichsten Zeichen der Zivilisation.
    Als die Auseinandersetzung anfing, war Kenan in der Arbeit. Jemand stürmte ins Zimmer und gab bekannt, dass der Krieg ausgebrochen sei. Manche reagierten panisch und stürzten ans Telefon, andere saßen benommen da und wollten es nicht glauben. Goran ging ans Fenster und schaute auf die Straße. Lächelnd kam er zurück.
    »Es gibt keinen Krieg. Sämtliche Straßenbahnen fahren noch«, sagte er und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Kenan und mehrere andere Kollegen widmeten sich ebenfalls wieder ihrer Arbeit. Sie waren sich nicht darüber im Klaren, dass die Männer auf den Bergen auf die Straßenbahnen schießen konnten, dass ihre Kugeln die Insassen töteten. Nach allem, was er seit diesem Tag gesehen hat, wird er dennoch niemals den Anblick der brennenden, von einer Mörsergranate und danach von Heckenschützen getroffenen Straßenbahn vergessen, aus der dichter, pechschwarzer Rauch quoll. Seitdem sind die Straßenbahnen nicht mehr gefahren. Sie sind in der ganzen Stadt verstreut, leere Hülsen, von denen einige als Deckung vor den Heckenschützen dienen, andere einfach vor sich hin rosten. Kenan ist der Meinung, dass der Krieg nicht vorüber sein wird, bis die Straßenbahnen wieder fahren, egal, was sonst passiert.
    Ginge er jetzt in Richtung Westen, zwei Straßenzüge nach rechts, käme er zum Marktplatz. Wenn es keine Lebensmittel von der Versorgungsstation gibt, muss er dort oft zu astronomischen Preisen das Essen für seine Familie kaufen. Als der Krieg ausbrach, war eine deutsche Mark zehn jugoslawische Dinar wert. Jetzt muss man für eine Mark eine Million Dinar hinlegen. Alle, die ihre Ersparnisse bei Kriegsausbruch nicht umtauschten, waren fast augenblicklich bankrott. Nicht dass es eine große Rolle spielt. Da sich die Preise nahezu jeden Monat verdoppeln, haben nur wenige Menschen so viel gespart, dass sie länger über die Runden kommen. Letzten Monat hat Kenan die Waschmaschine der Familie für hundertzehn Mark auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ohne Strom war sie für ihn sowieso nutzlos. Als er das letzte Mal auf dem Markt war, kostete ein Pfund Äpfel fünfzig Mark, ein Pfund Kartoffeln zwanzig Mark. Zwiebeln gab es für zwölf Mark, Bohnen für achtzehn, und für dreißig Mark bekam man drei Schachteln Zigaretten. Zucker kostete sechzig Mark, Kaffee hundert. Alles war gut und gerne zwanzigmal so teuer wie vor dem Krieg. Nur die Einkommen waren nicht gestiegen. Kenan bezweifelt, dass er seit Kriegsausbruch mehr als tausend Mark verdient hat. Er hat noch ein paar Haushaltsgegenstände, die er verkaufen kann, aber nicht mehr viele.
    Und dennoch scheinen manche Menschen von der finanziellen Belastung nicht betroffen zu sein. Sie fahren in neuen Mercedessen herum, haben kein Gramm abgenommen, verfügen jederzeit über Versorgungsgüter, die die meisten Menschen nur noch aus der Zeit vor dem Krieg kennen. Kenan ist sich nicht ganz sicher, wie sie das machen, aber er weiß, dass viele Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt durch einen Tunnel, der unter dem Flughafen hindurchführt, nach Sarajevo geschmuggelt werden. Wenn man ihn passieren will, braucht man jemanden, der Beziehungen zur Regierung hat, und obwohl der Tunnel rund um die Uhr in Betrieb ist, kommt kaum jemand durch. Kenan vermutet, dass die Güter, die durch ihn befördert werden, die Männer in ihren Sportwagen reich machen. Er begreift nicht, wie sie so etwas tun können, wie sie mit

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