Der Cellist von Sarajevo
wenn er etwas taugt, wenn er die Flugbahn der Kugel und den Fluchtweg in Betracht zieht, gibt es nur eine Gegend, von der aus er schießen kann.
Sie steht auf und geht nach Osten, zu dem Bereich, von dem aus der Schuss kommen wird. Sie muss eine Stelle finden, wo sie den Heckenschützen ins Visier nehmen kann, die aber weder direkt in seinem Blickfeld liegt noch sich allzu offenkundig als Scharfschützenstellung anbietet. Natürlich wird er mit ihr rechnen. Er wird Ausschau nach einem Standort halten, von dem aus sie ihn töten kann, und bevor er auch nur daran denkt, auf den Cellisten zu schießen, wird er auf seine eigene Sicherheit bedacht sein. Sollte sie entdeckt werden, wird der erste Schuss ihr gelten, der zweite dem Cellisten. So jedenfalls würde Strijela es machen.
Unmittelbar oberhalb vom Standort des Cellisten ist eine Stellung, die jemand wählen würde, der nicht allzu viel von seinem Handwerk versteht. Ein Mietshaus, das freie Sicht sowohl auf die Straße als auch auf die Stelle bietet, von der aus ein gegnerischer Scharfschütze vermutlich feuern würde. Wenn sie den Cellisten töten wollte, würde sie ihr Zielfernrohr sofort auf dieses Haus richten und damit rechnen, dort ein Gewehr zu entdecken.
Strijela lächelt. Allmählich kristallisiert sich ein Plan heraus. Sie läuft zurück, nach Westen, und sucht ein Haus auf der Südseite der Straße aus, von dem aus sie das Gebiet einsehen kann, in dem der Feind ihrer Ansicht nach sein wird. Dann geht sie dorthin, wo der Cellist sitzen und spielen wird, und überzeugt sich davon, dass für alles, was sie sich zurechtgelegt hat, Vorsorge getroffen ist. Sie fragt sich, ob sich der Cellist bewusst ist, dass ihn jemand beschützt, und wenn ja, ob es ihn tröstet. Die Straße ist nach wie vor menschenleer, die Luft kühl. Bald wird die Sonne den Boden erwärmen, und mehr Menschen werden sich ins Freie wagen. Um vier Uhr werden einige dieser Menschen an den Hauswänden auf der Südseite der Straße lehnen und dem Cellisten ein paar Minuten lang zuhören, bevor sie weitergehen. Sie werden nicht wahrnehmen, was über ihnen vor sich geht, bis sie feuert, und selbst dann wird es für sie nur einer von Hunderten Schüssen an diesem Tag sein.
Stunden später kauert Strijela in einem Zimmer auf der Südseite der Straße, westlich von dort, wo um vier Uhr der Cellist spielen wird. Sie ist ein paar Häuser hinter der Stelle, von der aus ein unbedarfter Schütze feuern würde. Sie hat zwei Löcher in die Plastikplane am Fenster geschnitten. Das eine bietet ihr freie Sicht auf die Stellung, die ihrer Meinung nach ein feindlicher Heckenschütze beziehen wird, durch das andere kann sie den Bereich einsehen, wo er sie vermuten wird, über dem Cellisten. Ein idealer Standort. Sie muss den Lauf ihres Gewehrs nicht auf die Straße hinausschieben, um zu schießen, was die Gefahr mindert, dass ihr Gegner sie entdeckt. Er wird von Anfang an im Nachteil sein, da die Sonne westwärts zieht, was ihn zwar beim Schuss auf den Cellisten nicht behindert, aber Strijelas Stellung kann er dadurch nur schwer erkennen.
Alles kommt Strijela zugute, mit einer Ausnahme. Wenn sie einen Fehler macht, wenn sie einen Heckenschützen geschickt haben, der sein Handwerk nicht beherrscht und auf der Südwestseite der Straße in Stellung geht, hat sie ihn nicht im Schussfeld. Sie glaubt nicht, dass sie einen Fehler gemacht hat, aber genau kann man das natürlich nie wissen. Es ist wieder einmal ein kleines bisschen Glück im Spiel, wie so oft im Leben, vermutet sie, aber sie fragt sich auch, wie viel Glück sie für sich beanspruchen kann.
Im dritten Stock eines Hauses auf der Nordseite der Straße, genau über der Stelle, wo der Cellist spielen wird, hat sie eine Falle gestellt. Im Fenster einer verlassenen Wohnung hat sie ein Gewehr abgelegt, den Lauf nach Westen gerichtet, dorthin, wo man einen Heckenschützen vermuten würde. Der Lauf des Gewehrs ragt ein paar Zentimeter durch ein Loch in der Plastikplane, und von dem Haus aus, wo ihrer Meinung nach der Heckenschütze sein wird, sind die Umrisse einer Baseballkappe zu sehen. Wenn sich der Gegner so verhält wie die meisten Heckenschützen, so wie sich Strijela selbst verhalten würde, wird er auf die Kappe schießen, bevor er auf den Cellisten feuert. Oft hat man keine Zeit dazu, aber ein Mann, der auf der Straße sitzt und Cello spielt, kann nicht schnell davonlaufen, auf den kann man auch ein paar Sekunden später noch schießen. Da ist es
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