Der Cellist von Sarajevo
besser, wenn man erst die Person ausschaltet, die einen höchstwahrscheinlich ihrerseits unter Beschuss nimmt. Und wenn er auf ihre Attrappe feuert, verrät er seinen Standort, falls Strijela ihn nicht schon vorher entdeckt. Es ist ein Bauerntrick, das ist ihr klar, aber da er in die Sonne schaut und wegen der Plastikplane keine freie Sicht in die Wohnung hat und weil es zu früh ist, um ein Nachtsichtgerät einzusetzen, das sie selbst übrigens gar nicht besitzt, wird der Schütze nicht erkennen können, dass es sich um eine Falle handelt. Einem hervorragenden Scharfschützen fiele vielleicht auf, dass sich sein zweites Ziel nicht bewegt, oder er würde abgeschreckt, weil die Situation so offenkundig ist, aber sie muss sich darauf verlassen, dass ihr Widersacher einfach nur gut ist und nicht außergewöhnlich.
Der Haken bei ihrem Plan ist, dass sie nicht genau weiß, ob die Wohnung, in der sie ihren Köder aufgebaut hat, verlassen ist. Allem Anschein nach wohnt dort niemand, aber wenn man die Mietshäuser in der Stadt überprüfte, würde man auf etliche Unterkünfte stoßen, die zwar unbewohnt wirken, aber keineswegs leerstehen. Wenn jemand in die darunterliegende Wohnung zurückkehrt, geriete sie in eine prekäre Lage. Der feindliche Heckenschütze würde die Menschen bemerken und wahrscheinlich für Soldaten halten. Nicht dass es eine große Rolle spielt. Die feindlichen Heckenschützen nehmen keine Rücksicht darauf, ob jemand Soldat ist oder nicht. Aber wenn sie die Wahl haben, so glaubt Strijela, würden sie zuerst den Soldaten töten. Es ist einfach eine Frage des Überlebens. Strijela möchte nicht das Blut von jemandem an den Händen haben, der nur den Fehler begangen hat, zu früh nach Hause zu kommen. Obwohl es jeden Tag geschieht, oft sogar mehrmals am Tag, ist es nie Strijelas Schuld gewesen, und dabei will sie es auch belassen. Sie will nicht dafür verantwortlich sein, dass Menschen sterben, die den Tod nicht verdient haben.
Deswegen sind zwei Löcher in der Plastikplane am Fenster. Sie hat sich vorgenommen, sofort auf die Wohnung über dem Cellisten zu schießen, sobald sie dort eine Bewegung bemerkt. Sie wird nichts treffen, aber das Feuer wird hoffentlich dafür sorgen, dass jeder, der sich dort aufhält, sofort Deckung sucht, so dass ihn der feindliche Heckenschütze nicht mehr ins Visier nehmen kann. Danach wird sie eine Kugel in Richtung des Heckenschützen abfeuern, damit er weiß, dass sie seinen Standort kennt. Wenn er so wie die meisten ist, wird ihn das davon überzeugen, dass er seine Pläne lieber überdenken und die Flucht ergreifen sollte. Er wird wiederkommen, das weiß sie, aber damit wird sie sich befassen, wenn es so weit ist.
Wenigstens ist sie sich ihrer Sache sicher, was die Wohnung angeht, in der sie sich aufhält. Bei einem vorsichtigen Gespräch mit dem Mann, der die Haustür bewacht, erfuhr sie, dass die Bewohner ausgezogen sind, und mit zwei Schachteln Zigaretten konnte sie ihn dazu bewegen, sie einzulassen und ihren Aufenthaltsort für sich zu behalten. Es ist allgemein üblich, dass die Bewohner eines Hauses Wachen stellen, die einander ablösen, um Scharfschützen und unerwünschte Elemente fernzuhalten, doch diese Leute kann man mühelos umgehen, wenn man sich auskennt. Ein gelangweilter Mann lässt sich leicht ablenken, und ein ängstlicher Mann ist von Anfang an abgelenkt. Sich unbemerkt in ein bewachtes Gebäude zu stehlen ist ein Kinderspiel. Strijela hat es schon unzählige Male gemacht.
Die Wohnung, in der sie sich befindet, muss einst ziemlich schön gewesen sein. Die Fenster sind groß, die Zimmer geräumig. Sie ist auch einigermaßen heil geblieben, obwohl im Badezimmer eine Granate eingeschlagen und Waschbecken, Badewanne und Toilette zertrümmert hat. Gegenüber von den Fenstern ragen Glasdolche aus dem Putz der Wände wie Dartpfeile aus einer Korkscheibe, und allerlei menschliche Hinterlassenschaften, Papiere, Fotos, ein zerfetztes Sofa, liegen herum und erinnern sie an Müll in einem Park. Irgendwann wird jemand kommen und alles abholen, und sei es nur, um es als Brennstoff zu benutzen. Sie versucht nicht über die Menschen nachzudenken, die hier wohnten, wie sie waren, ob sie glücklich waren, ob sie noch am Leben oder hier gestorben sind.
Durch ihr Zielfernrohr sucht sie die Häuser im Osten ab. Wenn er kommt, wird er bereits in Stellung gegangen sein. Während der letzten paar Stunden hat sie die Straße beobachtet und festgestellt, in welchen
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