Der Cellist von Sarajevo
Wohnungen allem Anschein nach rechtmäßige Mieter sind, welche Fenster man im Auge behalten sollte und an welchen Fenstern nichts zu sehen ist. Hauptsächlich jedoch hat sie sich einen allgemeinen Überblick über den Stand der Dinge verschafft, damit sie sofort Bescheid weiß, wenn sich irgendetwas ändern sollte. Aus dem Augenwinkel achtet sie ständig auf die Wohnung mit der Attrappe. Bislang hat sie dort noch keine Bewegung bemerkt.
Es sind insbesondere drei Fenster, die ihr zu denken geben. Von der Lage her sind sie hervorragend zum Beschießen der Straße geeignet, und jedes befindet sich relativ nahe bei einem Treppenhaus, das wiederum einen Fluchtweg bietet, der sich nicht so leicht blockieren lässt. Bislang hat sich dort, soweit sie sehen konnte, nichts getan, und genau das könnte darauf hindeuten, dass dort ein Heckenschütze ist.
Sie ist zusehends von ihrem Plan überzeugt, obwohl sie noch immer nicht weiß, wo der Schütze ist. Vernünftig begründen lässt sich das nicht. Sie hat nicht einen Hinweis, anhand dessen sie ausschließen könnte, dass er irgendwo in ihrer Gegend ist, westlich vom Cellisten, und geduldig darauf wartet, dass er herauskommt. Er könnte sogar in der Wohnung neben ihr sein, unter ihr oder auf dem Dach über ihr. Wenn er ein Dummkopf ist. Aber mit jeder Minute, die verstreicht, ist sie mehr davon überzeugt, dass er kein Dummkopf ist. Er muss hinter einem der drei Fenster sein.
Obwohl sie nicht hinschaut, nimmt Strijela sofort wahr, dass der Cellist aus der Tür getreten ist. Bevor er seinen Hocker aufgeklappt und sich mitten auf die Straße gesetzt hat, hat sie die drei Fenster fünf-, sechsmal gemustert und zweimal die ganze Umgebung abgesucht. Als er die Augen schließt und die Arme herabhängen lässt, wirft sie einen kurzen Blick auf ihn, nur eine Sekunde lang, und während er reglos dasitzt, überprüft sie vier weitere Male die Fenster. Nichts.
In einem weit entfernten Teil der Stadt geht eine Granate hoch, und einen Moment lang meint sie an einem der Fenster etwas zu sehen. Es befindet sich im vierten Stock eines Mietshauses, etwa siebzig Meter östlich des Cellisten. Sie kann nicht sagen, was es ist. Ein Schatten vielleicht, eine kurze, kaum wahrnehmbare Bewegung. Sie ist sich nicht sicher, ob da überhaupt etwas gewesen ist.
Während sie die beiden anderen Möglichkeiten überprüft, wird sie das Gefühl nicht los, dass ihr jedes Mal etwas entgeht, wenn sie den Blick von dem Fenster im vierten Stock abwendet. Beruhige dich, sagt sie sich. Lass es auf dich zukommen. Lass geschehen, was geschehen wird, und reagiere dann darauf. Mach es nicht noch komplizierter.
Sie lässt den Blick über den östlichen Abschnitt der Straße schweifen, sowohl über die Nord- als auch über die Südseite. Sie achtet auf jede Kleinigkeit, die sich verändert haben könnte, einen verschobenen Ziegel, einen anderen Schattenwurf. Sie versucht sich nicht ständig zu fragen, ob etwas anders ist. Wenn es so ist, wird sie es erkennen. Wenn nicht, kann sie es durch Grübeleien auch nicht erzwingen. Die Versuchung, sich etwas einzureden, ist groß, aber sie gibt ihr nicht nach.
Der Cellist setzt den Bogen an und beginnt zu spielen. Die Klänge dringen zu Strijela, manchmal fast unhörbar, manchmal so klar und deutlich, als säße er im Zimmer. Die Attrappe drei Stockwerke über ihm ist unberührt. Noch immer hält sich niemand in der Wohnung auf. Bislang hat ihre Falle nicht funktioniert, aber sie hat auch nicht versagt.
Sie widmet sich wieder dem Fenster im vierten Stock. Auf den ersten Blick wäre ihr die Veränderung fast entgangen. Sie will sich gerade einem der anderen Fenster zuwenden, als sie ein Loch in der Plastikplane bemerkt, etwa zweieinhalb Zentimeter lang, in der rechten unteren Ecke. Es ist nicht groß genug, um ein Ziel zu erfassen und hindurchzuschießen, aber man kann durchschauen. Das dürfte sein erster Schritt sein.
Sie überlegt, ob sie ihr Glück versuchen soll. Sie könnte eine Kugel durch das Loch jagen. Wenn er durchschaut, wird er getötet oder zumindest schwer verletzt. Aber wenn nicht, entkommt er, und sie muss wieder von vorn anfangen. Außerdem, ermahnt sie sich, hat sie keine Ahnung, wer in der Wohnung ist. Sie kann nicht einfach Kugeln in eine Wohnung schießen, ohne genau zu wissen, wer sich darin aufhält. Trotzdem weiß sie, dass sie recht hat. Sie weiß es einfach.
Aus dem Augenwinkel nimmt sie eine Bewegung wahr. Sie blickt auf die Straße hinab. Zwei
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