Der Cellist von Sarajevo
Mädchen, noch keine Teenager, haben sich dem Cellisten genähert und sind nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt. Dünn und ernsthaft stehen sie da und hören ihm zu. Wenn er sie wahrgenommen hat, so lässt er es sich nicht anmerken. Sie stehen genau in der Schusslinie des Heckenschützen.
Strijela wendet sich wieder dem Fenster im vierten Stock zu. Das Loch in der Plastikplane ist nicht größer geworden, und sie sieht auch keine neuen Löcher. Kann er durch eine so schmale Öffnung schießen?, fragt sie sich. Sie könnte es nicht, glaubt sie. Nicht ohne Beeinträchtigung ihrer Treffsicherheit. Aber was ist, wenn er es kann?
Dann werden sie sterben, sagt eine Stimme in ihr. Alle drei. Und du hast versagt.
Zum ersten Mal, seit sie ein Gewehr in die Hand genommen hat, um zu töten, spürt Strijela Panik in sich aufsteigen. Sie kommt nicht weiter. Sie kann nicht das Geringste tun. Es gibt keinen Anhaltspunkt, keine Abfolge von Ereignissen, die alles weitere bestimmen. Alles ist ungewiss, in der Schwebe, und sie kann nur eins tun. Sie kann blindlings feuern. Aber dazu ist sie nicht bereit. Jedenfalls meint sie das. Es kommt ihr nicht so vor, als könnte sie eine Entscheidung treffen. Sie tut es einfach nicht. Und sie ist sich nicht sicher, ob sie es fertigbrächte, wenn sie sich entscheiden würde zu schießen.
Die Mädchen auf der Straße setzen sich in Bewegung. Sie treten aus der Schusslinie und legen einen kleinen Strauß Wiesenblumen vor dem Cellisten hin. Sie meint Margeriten zu erkennen. Dann drehen sie sich um und laufen nach Westen, auf sie zu, und gehen weiter die Straße entlang, bis sie an ihr vorbei sind und nicht mehr in Gefahr schweben.
Am Fenster bewegt sich etwas. Eine Veränderung, ein leichter Lichtwechsel. Ein Schatten hinter der Plastikplane, wo zuvor kein Schatten war. Sie hat den Finger am Abzug. Jetzt muss er sich nur einen Moment lang zeigen. Eine Bewegung machen, die ihr verrät, wer er ist. Es ist eine Kleinigkeit. Nur eine weitere dieser Kleinigkeiten, die gar keine Kleinigkeiten sind. Die Summe stimmt fast. Es bedarf nur noch einer Bewegung.
Die Musik hört auf. Strijela kann sich nicht erinnern, dass sie die letzten paar Minuten etwas gehört hat, und sie weiß auch nicht, ob der Cellist fertig ist oder ob etwas geschehen ist. Sie konzentriert sich auf das Fenster im vierten Stock. Ihr ganzes Universum besteht aus zweieinhalb Quadratmetern Plastikplane. Nichts regt sich, nichts verändert sich. Zehn Minuten vergehen. Als sie auf die Straße hinabblickt, ist der Cellist weg.
Sie sinkt zu Boden, weiß nicht genau, was vor sich gegangen ist. Sie war davon überzeugt, dass er da war. Jetzt ist sie sich nicht mehr sicher. Warum hat er nicht gefeuert? Er hatte freies Schussfeld. Er musste freies Schussfeld gehabt haben. Sie versteht das nicht. Warum sollte er sich einen weiteren Tag hier herumtreiben? Ein Vorstoß auf feindliches Gebiet ist gefährlich und unangenehm, so was bringt man so schnell wie möglich hinter sich. Wenn sich die Gelegenheit zum Schuss bietet, ergreift man sie und haut ab. Aber er hat es nicht getan.
Sie kommt sich vor, als hätte sie versagt, obwohl sie weiß, dass es nicht stimmt. Sie hat die Aufgabe, den Cellisten am Leben zu erhalten. Genau so hat Nermin sich ausgedrückt. Es geht nicht darum, ob ein feindlicher Heckenschütze getötet wird oder nicht. Der Cellist ist noch am Leben. Er wird morgen wieder hier sein. Folglich hat sie nicht versagt.
Strijela denkt an die beiden Mädchen, die dem Cellisten Blumen hingelegt haben. Hassen sie die Männer auf den Bergen genauso wie sie? Hassen sie sie dafür, dass sie mörderische Mistkerle sind, gnadenlose Killer? Hoffentlich nicht. Das wäre zu einfach. Wenn sie die Männer auf den Bergen hassen, dann müssen sie auch sie hassen. Sie tötet ebenfalls. An einem Tag wie diesem, wenn sie nicht tötet, vermisst sie etwas, und sie weiß, dass diese Feindseligkeit in ihr schlimmer ist als ein Mangel an Erbarmen. Es ist fast eine Art Lust.
Sie hofft, dass die Mädchen, wie alle übrigen Bewohner der Stadt, die Männer auf den Bergen aus dem gleichen Grund hassen wie sie. Weil sie sie gezwungen haben zu hassen. Sie haben den Krieg angefangen, haben behauptet, die Bewohner von Sarajevo hassten einander, und die Menschen haben sich gewehrt, haben gesagt, das stimme nicht, in dieser Stadt gebe es keinen Hass. Aber dann fingen die Männer auf den Bergen an zu morden, zu verstümmeln, zu zerstören. Und nach und nach
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