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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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Kenan überlegt, ob er sie warnen soll, aber er kann ihnen nichts Nützliches sagen. Wenn er ihnen erklären würde, dass ein Heckenschütze die Brücke beobachtet, wäre das so, als würde er sagen, an diesem Morgen sei die Sonne aufgegangen. Deshalb lässt er sie gehen. Sie können seine Versuchskaninchen sein.
    Geradezu lässig rücken sie vor. Sie blicken nicht auf die Berge im Süden, bleiben nicht stehen. Als sie die Brücke erreichen, gehen sie etwas zügiger, flotter als ein Marsch, aber kein Dauerlauf. Die Frau läuft ein bisschen schneller als der Mann, worauf er weiter ausschreitet, um neben ihr zu bleiben. Als sie mitten auf der Brücke sind, meint Kenan das Unheil regelrecht zu spüren; er ist davon überzeugt, dass jeden Moment Schüsse fallen, dass beide getötet werden. Aber die Schüsse fallen nicht, und das Pärchen schafft es zur anderen Seite. Sie werden ein bisschen langsamer, haben vielleicht das Gefühl, außer Gefahr zu sein, doch Kenan weiß, dass sie noch immer getroffen werden können. Sie sind nicht in Sicherheit, bis sie im Schutz der Häuser sind, aber entweder weiß es das Pärchen nicht, oder es kümmert sich nicht darum.
    Eine Frau taucht hinter ihm auf. Sie ist Ende fünfzig, schätzt er, ihre Haare sind größtenteils grau, obwohl das nicht mehr viel zu sagen hat. Er hat gar nicht gewusst, wie viele Frauen ihre Haare färben, bis der Krieg ausbrach und Haarfärbemittel zu einer kostbaren Ware für Schwarzmarkthändler wurde. Kenan schaut die Frau noch einmal an, meint, dass sie möglicherweise jünger ist, als er zunächst dachte. Sie könnte sogar in seinem Alter sein. Keiner weiß, was der Krieg ihr angetan hat.
    Sie hat in jeder Hand einen vier Liter fassenden Wasserkrug. Sie grüßt Kenan, schaut auf die Brücke. »Ist sie sicher?«
    Kenan zuckt die Achseln. »Ein Pärchen ist grade rüber, ohne dass man auf sie geschossen hat. Aber wer weiß.«
    Die Frau sieht seine Wasserflaschen. »Wollen Sie zur Brauerei?«
    »Ja.« Einen Moment lang fragt sich Kenan, ob sie ihn bitten wird, Wasser für sie zu holen, aber noch ehe er den Gedanken zu Ende bringt, weiß er, dass es Unsinn ist. »Und Sie?«
    »Wenn ich’s schaffe. Der Berg ist steil, deshalb muss ich öfter stehen bleiben und mich ausruhen. Aber ich werd’s schon schaffen. Ich mag bloß die Brücke nicht.« Wieder schaut sie auf die Brücke, dann zu den Bergen.
    »Ich glaube, es ist ungefährlich.« Er überlegt, ob er sie fragen soll, wonach sie auf den Bergen Ausschau hält. Vielleicht weiß sie etwas Genaueres.
    Die Frau antwortet nicht, und Kenan hat das Gefühl, ihr zu nahe getreten zu sein. Er will auf jeden Fall weg von hier, deshalb nimmt er seine Behälter auf und wirft einen letzten Blick auf die Brücke.
    »Wollen Sie los?«, fragt sie und strafft die Schultern.
    »Ja.« Er zögert, weiß nicht recht, was sie von ihm erwartet, ob sie überhaupt irgendetwas erwartet. »Sollen wir zusammen gehen? Sie wissen schon, je mehr, desto sicherer.«
    Offenbar denkt sie über den Vorschlag nach. Er fragt sich, wer von beiden das verlockendere Ziel abgibt, dann reißt er sich zusammen. So etwas denkt man nicht.
    »Nein«, sagt sie. »Ich glaube, ich ruhe mich hier eine Weile aus.«
    Er nickt ihr zu und tritt auf die Straße. Er ist froh, dass er sich endlich in Bewegung setzt. Er weiß nicht genau, was eben vorgefallen ist, aber irgendetwas hat ihn bei dieser Begegnung nervös gemacht. Er läuft, so schnell er kann, zuerst ein leichter Trab, dann flotter. Er spürt die Brücke unter den Füßen und weiß, dass er jetzt ohne Deckung ist. Er schlägt ein paar Haken, nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts, läuft dann ein Stück geradeaus, versucht sich möglichst unberechenbar zu bewegen. Man muss darauf achten, dass die Ausweichmanöver nicht zu hektisch werden. Er hat einmal einen Mann gesehen, der zu schnell die Richtung wechselte, worauf er ausrutschte und sich den Knöchel brach. Der Mann lag mehrere Minuten lang auf der Straße, bis jemand kam und ihn in Sicherheit brachte. Zwar fiel kein Schuss, aber es hätte jederzeit passieren können, und dann hätte der Mann dem Heckenschützen viel Arbeit abgenommen.
    Seine Wasserflaschen stoßen aneinander, nur leise, doch Kenan kommt es vor wie Trommelschlag, und das erschreckt ihn so, dass er meint, jemand hätte es auf ihn abgesehen. Er läuft schneller, viel schneller, als er es für gesund hält, aber die Angst hat ihn gepackt, und er kann nicht anders. Das Ende

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