Der Cellist von Sarajevo
bekamen sie das, was sie wollten, einen Sieg, der so klar oder noch klarer ist, als wenn sie mit ihren Panzern durch die Stadt fahren könnten. Sie haben sie und Menschen wie sie gezwungen zu hassen.
Stunden später, als es fast dunkel ist und Strijela glaubt, die Wohnung nun gefahrlos verlassen zu können, geht sie an den Blumen vorbei, die die Mädchen dagelassen haben, und sieht, dass es nur ein paar von vielen Blumen sind, die man dem Cellisten seit Tagen zu Füßen gelegt hat, an der Stelle, an der die Granate einschlug. Einige verwelken bereits. Jetzt versteht sie die Mädchen. Aber sie versteht nicht, wieso ihr der Blumenhaufen bislang nicht aufgefallen ist. Strijela wendet sich ab und begibt sich zu ihrer Wohnung. Morgen wird sie wieder da sein.
Kenan
Kenan kann lediglich die Überreste der Nationalbibliothek betrachten. Die Stein- und Ziegelmauern stehen zwar noch, aber das Innere ist vollständig ausgebrannt. Das Feuer hat Rußzungen über den Fenstern hinterlassen, und die gläserne Dachkuppel, die ein Jahrhundert lang stolz über dem Gebäude aufragte, liegt zertrümmert am Boden. Hier kehrte die Straßenbahn einst in einem Halbkreis um und bot einen umfassenden Blick auf diesen eindrucksvollen Bau. Es war einer seiner Lieblingsorte in der Stadt, obwohl er keine Leseratte war. Die Bibliothek war das unübersehbare Zeugnis einer Gesellschaft, auf die er stolz war. Jetzt dienen die Straßenbahngleise keinerlei Zweck und bieten nur mehr einen Blick auf das, was verlorengegangen ist.
Die Bibliothek war eines der ersten Ziele, das sich die Männer auf den Bergen vornahmen, und sie leisteten ganze Arbeit. Kenan wusste damals nicht, ob es Granaten waren, die das Feuer ausgelöst hatten, oder ob jemand eine Bombe hineingeschmuggelt hatte, wie beim Postamt, aber er wusste, dass sie unentwegt Brandgranaten schossen, als sie bereits in Flammen stand. Er ging hin, als er hörte, dass sie brannte, ohne zu wissen, warum. Ohnmächtig und nutzlos sah er zu, als das Sinnbild dessen, was die Stadt war, was sie für viele, ihn eingeschlossen, nach wie vor sein sollte, der Begierde der Männer auf den Bergen anheimfiel.
Feuerwehrautos rückten an, und sie wurden ebenfalls ins Visier genommen, von unsichtbaren Heckenschützen beschossen, von einer Armee, die einst geschworen hatte, die Stadt zu beschützen, mit Granaten eingedeckt. Die Feuerwehrmänner bekämpften die Flammen, solange sie konnten, bis sie von einem Kommandeur, der die ausweglose Lage erkannte, zurückbeordert wurden. Kenan sah einen Feuerwehrmann, wahrscheinlich Ende zwanzig, der allein dastand und das lodernde Inferno betrachtete. Er rührte sich nicht von der Stelle, bis er erschöpft zusammenbrach und auf die Knie sank. Seine Kameraden stürmten zu ihm, dachten, ein Heckenschütze hätte ihn getroffen. Als sie ihm auf die Beine halfen und ihn wegführten, sah Kenan Schweiß- oder Tränenschlieren auf seinen Wangen, und der Feuerwehrmann bewegte lautlos die Lippen, als ob er betete. Hinterher schwebte tagelang die Asche von Millionen Büchern auf die Stadt herab wie Schnee.
Seinerzeit dachte Kenan, der Feuerwehrmann wäre von der Trauer über den Verlust der Bibliothek überwältigt worden, und er glaubt das immer noch, aber inzwischen ist er auch der Meinung, dass der Feuerwehrmann in die Knie gesunken ist, weil er nichts bewirken konnte. Wenn Kenans Kinder fragen, warum dieser Krieg stattfindet, warum Menschen ausgehungert und beschossen werden, und er ihnen keine Antwort geben kann, wenn er sie leiden sieht und nichts dagegen tun kann, stellt er sich vor, er wäre dieser Feuerwehrmann, und er wünscht sich, jemand würde ihn aufheben und wegtragen. Doch er darf nicht zusammenbrechen, weil seine Kinder ihn anschauen und von ihm hören wollen, dass alles gut werden wird, dass der Krieg zu Ende gehen wird, dass sie alle überleben werden. Manchmal weiß er nicht, was ihn davon abhält, sich einfach aufzulösen. Es ist so wenig von ihm übrig.
Er kommt um die Ecke und sieht die Šeher-Ćehaja-Brücke vor sich. Er bleibt stehen und rückt die Wasserflaschen zurecht, bevor er hinter einem der großen Stützbogen der Bibliothek in Deckung geht. Er sucht die Berge ab, weiß nicht recht, wonach er Ausschau hält, möchte aber eine Art Hinweis, dass niemand ein Gewehr auf die Brücke gerichtet hat. Nach ein paar Minuten kommen ein Mann und eine Frau um die Ecke. Sie blicken ihn argwöhnisch an, bleiben aber nicht stehen. Sie gehen auf die Brücke zu, und
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