Der Cellist von Sarajevo
er recht hat. Ihr Hals ist leicht gerötet, und sie entfernt sich von ihm, wenn auch nur ein Stück.
»Wenn sie so gut ausgestattet sind, warum riskierst du dann dein Leben, um jemandem Medikamente zu bringen, die mindestens fünf Jahre alt sind?«
Das hat gesessen. Sie tritt zurück, nimmt die Hände aus den Taschen und legt sie an die Brust. Einen Moment lang fragt sich Dragan, ob sie ihn schlagen will. Es würde ihm nichts ausmachen. Er weiß, dass er es verdient hat.
»Tut mir leid«, sagt er. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe.«
Sie rührt sich nicht. Sie starrt ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. Er weiß nicht, wonach sie Ausschau hält. Er versucht zerknirscht zu wirken, sagt sich, dass er nichts reden, still sein soll. Nichts, was er sagt, kann das hier bereinigen.
Doch er spürt, wie sich sein Mund bewegt und Worte aus ihm sprudeln. »Ich begreife nicht, weshalb du keine Angst hast. Ich begreife nicht, dass dir die Vorstellung, erschossen oder zerfetzt zu werden, keine Angst macht.«
Sie atmet aus, lässt die Hände sinken. »Ein Mann spielt auf der Straße Cello«, sagt sie. »In der Nähe des Marktes. Wo die Leute getötet wurden, die nach Brot anstanden.«
Dragan hat von dem Massaker gehört, als es geschah. Es war nicht weit vom Haus seiner Schwester entfernt. Wenn er nicht jeden Tag, an dem er arbeitet, Brot mit nach Hause brächte, wäre es gut möglich gewesen, dass sie in der Schlange gestanden hätte. Doch darüber hat er seither nicht nachgedacht. Es war zwar einer der schlimmsten Vorfälle, aber viel mehr Tote, als es Tag für Tag gibt, hat er nicht gefordert.
»Jeden Tag, um vier Uhr.« Sie beugt sich näher zu ihm, als verstünde er sie nicht. »Jeden Tag sitzt er da und spielt. Die Leute gehen hin und hören zu. Manche legen Blumen nieder. Ich bin mehrmals dagewesen. Manchmal höre ich mir alles an, manchmal gehe ich nach ein paar Minuten wieder.«
Dragan nickt. Er hat von dem Cellisten gehört, hat jedoch nicht weiter über die Geschichte nachgedacht, hat ihn noch nie gesehen. Er weiß nicht genau, warum Emina ihm all das erzählt, aber er will sie nicht unterbrechen. Er will sie ausreden lassen.
»Ich kenne das Stück nicht, das er spielt, weiß den Namen nicht. Es ist eine traurige Melodie. Aber mich macht sie nicht traurig.« Sie schaut ihn direkt an, wendet den Blick nicht ab, und ihm ist ein bisschen unwohl zumute. »Was meinst du, weshalb er das macht? Spielt er für die Leute, die umgekommen sind? Oder spielt er für die Leute, die überlebt haben? Was will er damit erreichen?«
Dragan wird klar, dass es nicht nur eine rhetorische Frage ist. Sie erwartet eine Antwort. Er hat keine. Er hat keine Ahnung, was einen Menschen zu so etwas treibt.
»Für wen spielt er?«, fragt sie erneut, und mit einem Mal meint Dragan es zu wissen.
»Vielleicht spielt er für sich selbst«, sagt er. »Vielleicht spielt er, weil es das ist, was er wirklich kann, und will damit gar nichts bewirken.«
Und er glaubt, dass es stimmt. Er glaubt nicht, dass der Cellist etwas verändern oder wieder in Ordnung bringen, sondern nur verhindern will, dass es noch schlimmer wird. Weil es, wie der Optimist im Witz von Eminas Mutter sagte, immer noch schlimmer werden kann. Und vielleicht sind sogar einzig und allein Menschen, die das tun, was sie wirklich können, dazu in der Lage.
Seine Antwort scheint Emina zufriedenzustellen oder zumindest zu beschäftigen. Sie lehnt sich wieder an den Güterwaggon. Nach einer Weile sagt sie: »Jovan sagt, er ist verrückt. Er sagt, es ist völlig vergeblich, und er erreicht damit nur, dass er umgebracht wird.«
Dragan denkt darüber nach. »Jovan ist ein Dummkopf«, sagt er. Er schaut Emina nicht an, starrt geradeaus.
»Ich weiß«, sagt sie. »Früher hat mir das an ihm irgendwie gefallen.«
Er riskiert einen kurzen Blick auf sie und sieht, dass sie nicht lächelt. »Ich habe Angst, Dragan. Ich habe vor allem Angst, vor dem Sterben, vor dem Überleben. Ich habe Angst davor, dass es für immer so bleibt, dass es gar kein Krieg ist, sondern einfach so, wie das Leben sein wird.«
Dragan nickt. Die Streitlust ist verflogen. »Ich auch«, sagte er. »Vor allem.«
Sie tritt einen Schritt vor, dreht sich um und bleibt neben ihm stehen. Bislang war niemand so tapfer und hat sich wieder über die Kreuzung gewagt, aber es sieht so aus, als würde es bald jemand versuchen, und alle scheinen darauf zu warten, wer es sein wird und wie es ihm ergehen wird. Dragan
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