Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
Vom Netzwerk:
er den Besuch mehr oder weniger anstandslos hinter sich brachte. Von da an kam sie ein-, zweimal pro Woche vorbei, für gewöhnlich abends, wenn Kenan daheim war. Was den Farn anging, hielt er sich möglichst genau an ihre Anweisungen, aber trotz aller Pflege ging er binnen kurzem ein. Frau Ristovski entging das nicht. Bei einem der nächsten Besuche schaute sie sich den verdorrten Farn an, schüttelte den Kopf und sagte: »Hoffentlich können Sie mit Kindern besser umgehen als mit Pflanzen. Die sind erheblich schwieriger.«
    Kenan erfuhr später, dass Frau Ristovski jedem neuen Mieter, der in das Haus zog, einen Farn vorbeibrachte, und dass diese Farne ausnahmslos eingingen. Man nahm allgemein an, dass sie irgendwie vergiftet waren, von Anfang an zum Tod verurteilt, aber Kenan mochte nie recht daran glauben. Allerdings war ihm aufgefallen, dass sie in ihrer Wohnung keinerlei Pflanzen hatte.
    Oftmals ertappte er sich dabei, dass er sie anderen gegenüber verteidigte, zumindest halbherzig, sie daran erinnerte, dass ihr Mann vor fünfzig Jahren gestorben war und sie seither allein lebte. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto weniger Grund für ihre Verbitterung schien sie seiner Meinung nach zu haben. Sie konnte allenfalls fünfundzwanzig gewesen sein, als sie Witwe wurde, jung genug, um ein neues Leben anzufangen. Er hatte keine Ahnung, weshalb sie so geworden war, ob es daran lag, dass sie ihren Mann im Krieg verloren hatte, am Krieg an sich, oder ob hinterher irgendetwas vorgefallen war. Vielleicht war sie schon immer so gewesen.
    Das erklärt noch lange nicht, weshalb er sich hier mit diesen unmöglichen Flaschen herumschlagen muss. Gut, er hat es ihr versprochen, aber er hat auch schon andere Versprechen gebrochen und wird es vermutlich wieder tun. Er kann nicht einmal vorgeben, dass er sie mag, und auch wenn er ein bisschen Angst vor ihr hat, ist er doch nicht so von ihr eingeschüchtert, dass er sich jedem ihrer Wünsche beugt. Ehrlich gesagt, hat er keine Ahnung, warum er Frau Ristovski Wasser bringt.
    Es wird höchste Zeit, dass er sich in Bewegung setzt. Zur Brauerei ist es nicht mehr weit, nur noch ein Stück nach Westen und dann nach Süden, den Berg hinauf. Er überquert die Straße und läuft über eine Brache, geht in Deckung, wo er welche findet. Als er den Berg hinaufsteigt, sieht er, dass das Wasser aus den Leitungen der Brauerei die Straße hinabläuft. Die Spur derer, die vor ihm Wasser holen waren, erinnert ihn an Schneckenschleim auf einem Gartenweg. Ein Lastwagen mit einem riesigen Plastiktank auf der Ladefläche fährt an ihm vorbei, hupt und scheucht ihn an den Straßenrand. Viele Menschen sind jetzt auf der Straße unterwegs, die meisten mit allerlei Gerätschaften zum Wasserfassen beladen, und sie werden von diesem Lastwagen und mehreren andern, die ihm folgen, ebenfalls an den Straßenrand gescheucht. Es ist ein Pilgerzug, ein Aufmarsch, so als wären sämtliche Ratten von Hameln angetreten. Als das massige, hellrote Gemäuer der Brauerei in Sicht kommt, ist er sowohl froh als auch bangen Muts, denn er ist zwar an seinem Ziel angekommen, weiß aber, dass er noch einen langen Heimweg vor sich hat.

Dragan
    Was, glaubst du, ist schlimmer«, fragt Dragan, »verwundet oder getötet zu werden?«
    Er ist sich nicht sicher, warum er Emina das fragt. Es erscheint ihm beinahe nichtig, so als frage man, ob es besser sei, lebendigen Leibes in brodelndem Wasser oder in siedendem Öl gekocht zu werden.
    Er lehnt sich an den Güterwaggon, und sie steht ihm gegenüber, den Rücken der Straße zugekehrt. Ab und zu tritt sie von einem Bein auf das andere, als finde sie keinen bequemen Stand.
    »Ich glaube«, sagt sie und lässt den Blick zur Kreuzung schweifen, »verwundet zu werden ist besser. Dann hat man wenigstens eine Überlebenschance.«
    »Das ist keine große Chance«, sagt er und fragt sich erneut, warum. Welchen Sinn sollte dieses Gespräch haben? Aber die Worte sprudeln weiter aus ihm heraus, und er kann sie nicht zurückhalten. Es ist, als zupfe er an einem Grind.
    »Was meinst du damit? Eine Chance ist eine Chance.«
    »Im Krankenhaus können sie nicht viel für einen tun. Sie sind knapp an Medikamenten, knapp an Personal.« Er weiß nicht genau, ob das stimmt, aber es kommt ihm wahrscheinlich vor.
    »Ich glaube, sie sind einigermaßen gut ausgestattet. Allem Anschein nach werden viele Leute verwundet, ohne zu sterben.« Er sieht, dass ihr das zu schaffen macht und sie nicht möchte, dass

Weitere Kostenlose Bücher