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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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der Brücke liegt unmittelbar vor ihm, als er mit dem Fuß in einem Riss im Asphalt hängen bleibt. Er meint zu fallen, hält sich aber irgendwie aufrecht und fängt sich so weit, dass er über die letzten paar Meter der Brücke in den Schutz eines kleinen Hauses zu seiner Linken stolpern kann.
    Keuchend sitzt er da, mit brennender Lunge, bis sein Atem wieder langsamer geht und er sich hochzieht. Er blickt zurück zur Bibliothek und sieht, dass die Frau zu ihm schaut. Sie ist zu weit weg, als dass er es genau erkennen könnte, aber er bildet sich ein, dass sie ihn auslacht. Ihm wird klar, dass sie ihn als ihr Versuchskaninchen benutzt hat, so wie er vorhin das Pärchen. Offensichtlich hat er sie nicht ermutigt, denn sie bleibt in Deckung.
    Vor ihm ist ein Restaurant, in dem er früher bei besonderen Anlässen gespeist hat, das Inat Kuca oder Haus des Trotzes. Angeblich befand es sich einst auf der anderen Seite des Flusses, am rechten Ufer. Als die Österreich-Ungarischen den Lauf der Miljacka begradigten, stand es im Weg, doch der Besitzer weigerte sich, es abreißen zu lassen. Schließlich erklärte er sich dazu bereit, sein Grundstück unter der Bedingung abzutreten, dass man das Haus Stein um Stein über den Fluss schaffte und am linken Ufer wiederaufbaute. Darüber hinaus verlangte er aus Trotz einen Beutel Dukaten. Kenan weiß nicht genau, ob die Geschichte stimmt oder nicht, aber seiner Meinung nach spielt das auch keine Rolle. Er fände es jedenfalls gut, wenn die Männer auf den Bergen herunterkommen und jedes Gebäude wieder so herrichten, wie es war, Stein für Stein, und wenn sie dazu ein bisschen Geld herausrücken, nun ja, wie sollte er wissen, was Trotz ist und was Wiedergutmachung? Er blickt auf das mittlerweile geschlossene Restaurant und lacht kurz auf. Die Männer auf den Bergen werden nur aus einem Grund in die Stadt kommen, und ganz gewiss nicht, um alles wieder so herzustellen, wie es früher war.
    Er nimmt seine Flaschen, hängt sich das Seil über die Schulter und ergreift dann Frau Ristovskis Flaschen. Er versteht nicht, warum sie sich nicht welche mit Henkel besorgt. Ihm ist klar, dass sie alt ist, und die Alten haben ihre festen Gewohnheiten, aber sie hat diese Flaschen schließlich nicht ihr Lebtag zum Wasserholen benutzt. Sie ist von der Wasserknappheit genauso lange betroffen wie er, muss jedoch nicht den Berg hinabmarschieren, quer durch die Stadt, über eine Brücke, einen weiteren Berg hinauf und wieder nach Hause. Wenn jemand an seinen Gewohnheiten hängen sollte, dann er.
    Er erinnert sich daran, wie er sie kennengelernt hat, vor fast siebzehn Jahren. Er und seine Frau waren damals Anfang zwanzig, jung verheiratet, und ihre erste Tochter war erst ein paar Monate alt. An einem trüben Frühlingsmorgen zogen sie in ihre Wohnung, und am Nachmittag hörten sie das beharrliche Klopfen an der Tür, das ihnen noch allzu vertraut werden sollte.
    Kenan öffnete die Tür und sah Frau Ristovski vor sich stehen, die fast genauso aussah wie heute. Sie drückte ihm einen Zimmerfarn in die Hände, trat einen Schritt vor, zog die Schuhe aus und schaute ihn an.
    »Ich bin Ihre Nachbarin, Frau Ristovski«, sagte sie. »Haben Sie Pantoffeln?«
    Kenan stellte sich vor, reichte seiner etwas verdutzten Frau die Pflanze und wühlte in etlichen Kartons herum, bis er ein Paar Pantoffeln fand.
    »Die sind ein bisschen klein«, sagte sie, als sie ihre Füße hineinzwängte, »aber vorerst tun sie’s. Das nächste Mal bringe ich meine eigenen mit.«
    Sie saßen auf dem Sofa, das Kenans Eltern ihnen zur Hochzeit geschenkt hatten, während seine Frau Kaffee kochte. Frau Ristovski hielt ihm einen langen Vortrag über Wohl und Wehe bei der Farnpflege, den er sich so aufmerksam wie möglich anhörte. Die Kleine schlief im Zimmer nebenan, und obwohl er Frau Ristovski mehrmals darauf hinwies, betont leise sprach und darauf hoffte, dass sie es ihm gleichtun möge, wurde sie jedes Mal lauter, wenn sie das Wort ergriff, bis es Kenan so vorkam, als schreie sie.
    Seine Frau brachte gerade den Kaffee, als die Kleine aufwachte und losschrie, worauf sie ihm einen finsteren Blick zuwarf, so als wäre es seine Schuld, dass Frau Ristovski ihre Stimme nicht im Zaum halten konnte. Als Amila weg war, trank Frau Ristovski einen kleinen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Ihre Kleine ist ein ganz schöner Schreihals. Hoffentlich sind Sie und Ihre Frau nicht genauso laut.«
    Kenan versicherte ihr, dass dem nicht so sei, worauf

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