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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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blickt zum Himmel auf und betrachtet eine große, graue Wolke. Es kommt ihm so vor, als bewege sich die Wolke ganz langsam. Er fragt sich, ob es so ist oder ob es nur an der Perspektive liegt, ob die Wolke sich tatsächlich so schnell bewegt wie ein Vogel oder ein Auto. Er glaubt es nicht, aber es lässt sich nicht genau feststellen, und das tröstet ihn. Er schaut wieder zur Straße und bewusst nicht zum Himmel, bis er sicher ist, dass die Wolke weg ist.
    Ein Mann, der eine gelbe Jacke trägt, kommt zu dem Schluss, dass er die Kreuzung gefahrlos überqueren kann. Er rennt los, hält den Kopf tief gesenkt und läuft im Zickzack auf die andere Seite. Das scheint die Wartenden etwas zu erleichtern, und ein paar weitere fassen Mut und laufen los. Sie schaffen es zur anderen Seite, ohne dass irgendetwas passiert. Allmählich löst sich der Rückstau der Wartenden auf, bis außer Dragan und Emina niemand mehr im Schutz des Güterwaggons steht.
    »Eine Frau bekommt Besuch von einer Freundin«, sagt Emina. Sie spricht schnell und leichthin. »Die Freundin kommt rein, und die Frau fragt sie, ob sie Kaffee will. ›Nein danke‹, sagt die Freundin, ›alles ist bestens.‹ Sagt die Frau: ›Gut, dann kann ich mich jetzt duschen.‹«
    Dragan lacht, obwohl er den Witz schon kennt. Es gibt ein halbes Dutzend Versionen davon, und in jeder schafft es die Frau, mit aberwitzig wenig Wasser etwas Großartiges anzustellen. Er ist nicht weit von der Wahrheit entfernt. Dragan kann sich mit einem halben Liter Wasser von Kopf bis Fuß waschen. Ein Viertelliter zum Einseifen, ein Viertelliter zum Abspülen. Es ist nicht das Gleiche wie früher, aber es geht. Es ist ein echter Genuss, wenn das Wasser warm ist.
    In ein paar Wochen wird Dragans Sohn neunzehn. Wenn er noch hier wäre, würde er so gut wie sicher in die Kämpfe verwickelt, sei es als Freiwilliger oder als Gezogener. Dragan kann sich noch an den Tag erinnern, an dem sein Sohn geboren wurde, in den frühen Morgenstunden, als die Sonne noch nicht aufgegangen war. Sie waren seit anderthalb Tagen im Krankenhaus. Seine Frau lag fast sechsunddreißig Stunden in den Wehen, und am Ende machten ihm die besorgten Mienen der Ärzte und Schwestern Angst, doch dann wurde sein Sohn aus dem Leib seiner Frau gezogen und für gesund erklärt. Der leise Schrei, der aus dem Bündel aus Decken drang, klang für Dragan wie Musik. Hinterher erfüllte ihn eine tiefe Zuneigung, nicht nur zu seinem Sohn, sondern zur ganzen Welt, und er wünschte, sie wäre alles, was sie nicht war, und fragte sich, wie er sie verbessern könnte. Aber im Lauf der Zeit ließ dieses Gefühl nach, bis es völlig verschwunden war, so als wäre es nie dagewesen.
    Dragan wollte immer noch das Beste für seinen Sohn, und er wünschte sich immer noch, die Welt wäre anders, aber er dachte nicht mehr ernstlich darüber nach, wie er das erreichen, was er mit seinem Verhalten bewirken könnte. Jetzt fragt er sich oft, ob er irgendetwas getan oder nicht getan hat, das bei der Zerstörung der Stadt eine Rolle gespielt hat. Er fragt sich, was geschehen wäre, wenn die Männer auf den Bergen und die Männer in der Stadt einen Bruchteil der Zuneigung im Herzen trügen, die er durch ein kleines Kind erfahren und für es empfunden hatte.
    Von Osten nähert sich ein kleiner schwarzer Hund, der noch etwa zwanzig Meter entfernt ist. Er hat die Schnauze am Boden, den Schwanz hochgereckt und zieht entschlossen seines Wegs. Der Hund bleibt nicht stehen, um irgendwo zu schnuppern oder vorübergehende Menschen anzubellen. Dragan ertappt sich dabei, dass er den Hund betrachtet, während er immer näher kommt, und als er zu Emina schaut, sieht er, dass sie das Gleiche tut. Der Hund läuft so nahe an ihnen vorbei, dass sie ihn berühren könnten, doch er nimmt keine Notiz von ihnen. Ansonsten scheint niemand auf der Straße den Hund zu bemerken, aber warum auch? Die Stadt ist voller streunender Hunde. Der hier hat nichts Besonderes an sich. Aber wenn das so ist, denkt er, warum beobachten ihn dann Emina und ich? Es liegt an der Zielstrebigkeit des Hundes. Dieser Hund muss irgendwo hin.
    Der Hund erreicht die Kreuzung und betritt sie, ohne zu zögern. Weiß er, dass ein Mann mit einem Gewehr auf den Bergen ist? So als wollte er die Frage beantworten, hebt der Hund die Schnauze, dreht den Kopf nach rechts und blickt zu den Bergen. Jetzt glaubt Dragan, dass der Hund genau weiß, was los ist. Womöglich weiß er sogar, wo der Heckenschütze ist.

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