Der Cellist von Sarajevo
Vielleicht kann ein Hund den Weg einer Kugel riechen, ihre Flugbahn zum Ausgangspunkt zurückverfolgen. Der Hund könnte durchaus wissen, aus welchem Fenster oder von welchem Dach aus der Heckenschütze schießt. Hat das schon mal jemand untersucht? Wissen wir genau, was ein Hund riechen kann und was nicht?
Dragan fragt sich, ob ein Heckenschütze auf einen Hund schießen würde. Würde er eine Kugel verschwenden und womöglich riskieren, dass er einem gegnerischen Scharfschützen seine Stellung verrät? Wenn die Männer auf den Bergen nicht auf einen Hund schießen, wohl aber auf uns, dann heißt das, dass sie uns für etwas anderes halten. Für besser oder für schlechter, das ist die Frage.
Der Hund, der die Schnauze jetzt wieder am Boden hat, ist fast über der Kreuzung. Er erreicht die andere Seite, bleibt dann unverhofft stehen, dreht sich um und blickt zurück. Ein paar Sekunden lang starrt er auf die Straße, ohne dass ersichtlich wäre, worauf, dann dreht er sich erneut um und läuft weiter, bis er außer Sicht ist.
»Was hat dieser Hund deiner Meinung nach vor?«, fragt ihn Emina.
Er dreht sich um, sieht, dass sie lächelt. »Ich habe keine Ahnung.«
»Ich frage mich, was für eine dringende Aufgabe ein Hund haben kann, dass er so zielstrebig seines Weges zieht.«
Dragan will gerade antworten, einen Scherz machen, als ihm klar wird, dass es kaum einen Unterschied zwischen ihm und dem Hund gibt, egal, wohin er geht, egal, welche Aufgabe er hat. Sie beide versuchen nur zu überleben. Die Männer auf den Bergen unterscheiden noch immer zwischen Menschen und Hunden, aber er? Er war um den Hund ebenso besorgt, als er im Schussfeld des Heckenschützen war, wie um die vierzig, fünfzig Menschen, die die Kreuzung überquert haben, seit er hier ist.
Emina schaut ihn an und wartet auf eine Antwort.
»Wohin müssen wir denn alle so dringend?«, sagt er und hofft, das Gespräch damit zu beenden. Er möchte nicht mehr über den Hund reden oder darüber nachdenken.
Er fragt sich, wie lange er schon hier ist und wartet. Eine Dreiviertelstunde vielleicht. Hat dieses Abwarten seine Chance erhöht oder verringert?
»Warum hat der Sarajevoer die Straße überquert?«, fragt er Emina.
Sie schüttelt den Kopf, nimmt die Hände aus den Taschen und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. »Eine gute Frage.«
»Um auf die andere Seite zu gelangen«, antwortet er. Emina stöhnt, weil es ein schlechter Witz ist. Dragan ist es egal. Er hat seit Monaten keinen Witz mehr erzählt. Es tut gut, auch wenn er furchtbar ist.
»Ich glaube«, sagt sie, immer noch leicht lachend, »es wird höchste Zeit, dass diese Sarajevoerin eine Mutprobe macht. Wenn ich jetzt gehe, bin ich vielleicht rechtzeitig zurück, um dem Cellisten zuzuhören.«
Dragan hört auf zu lachen. Sie hat recht. Sie sind lange genug hier. »Ich komme mit«, sagt er.
Emina nickt, worauf sie zur Straße gehen, sie voraus, Dragan hinterher. Als sie fast am Ende des Güterwaggons sind, an der Stelle, an der sie losrennen müssen, verliert Dragan die Nerven. Seine Hände schwitzen, dann der Rücken und die Füße. Er ist außer Atem. Er streckt die Hand aus und legt sie auf Eminas Schulter, hält sie zurück.
»Ich kann nicht«, sagt er. »Ich bin noch nicht so weit.«
Emina nickt. »Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«
Er will es, aber er will es ihr nicht sagen. »Mir fehlt nichts«, sagt er. »Ich hab’s nicht besonders eilig.«
Sie schaut ihn mit gespannter Miene an, und er fragt sich, ob sie trotz seiner Beteuerung bei ihm bleiben wird.
»Bestell Riza alles Liebe«, sagt sie, beugt sich vor und umarmt ihn. Sie fühlt sich warm und kräftig an, viel größer als bei der Umarmung vorher. Sie ist für ihn wieder wirklich geworden. Sie ist diejenige, die er einst kannte. Betroffen vom Krieg, verändert, aber die Frau, die er kannte, ist noch da. Sie ist nicht so grau wie die Straßen. Er fragt sich, warum er das nicht vorher gesehen hat, was er sonst noch alles übersehen hat.
Zwei Leute überqueren die Straße von der anderen Seite, ein Mann und eine Frau. Der Mann ist etwa in der Mitte der Kreuzung, die Frau läuft gerade los. Die Haare der Frau sind mit einem schwarzen Schal zurückgebunden, der Mann trägt einen braunen Hut, eine Art Hut, wie ihn Dragan nie besessen hat, aber immer gut fand. So einen Hut könnte ein Detektiv tragen, denkt er.
Emina tritt auf die Straße. Sie läuft schneller, aber Dragan kommt es so vor, als werde sie langsamer.
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