Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
Vom Netzwerk:
Die ganze Welt ist eingetrübt, dunstig, wie unter Wasser. Die blaue Wolle von Eminas Mantel ist verschwommen, und Dragan ist müde. Er könnte tagelang schlafen.
    Ein junger Mann taucht neben Dragan auf und bereitet sich aufs Loslaufen vor. Er zögert nur einen Moment, holt tief Luft und setzt sich in Bewegung. Als er auf die Straße tritt, wird Emina heftig zur Seite geschleudert, und ein Gewehrschuss zerreißt die Stille. Der Mann mit dem Hut bleibt einen Moment lang stehen und rennt dann auf Dragan zu. Die Frau macht kehrt und will sich zurückziehen. Emina liegt da und bewegt sich nicht. Dragan kann nicht erkennen, wo sie getroffen wurde, ob sie noch lebt oder nicht.
    Neben ihm stürmt eine Handvoll Leute, die in der Nähe sind, nach vorn, zur Ecke des Güterwaggons, die Augen auf die Straße gerichtet. Ein paar rufen den Leuten, die in der Schusslinie des Heckenschützen sind, zu, dass sie rennen sollen, in Deckung gehen, all das, was sowieso jeder weiß.
    Der junge Mann läuft zu Emina. Er sollte kehrtmachen, denkt Dragan. Er läuft in die falsche Richtung. Dann wird Dragan klar, was er macht, und er möchte mit dem Mann mitgehen, ihm helfen und zusehen, ob Emina gerettet werden kann. Aber seine Füße regen sich nicht. Rundum herrscht hektisches Treiben, aber er hat sich nicht von der Stelle gerührt.
    Der junge Mann und der Mann mit dem Hut sind gleichzeitig bei Emina, im selben Moment, als sich die Frau in Sicherheit bringt. Dragan sieht, wie Leute auf der anderen Straßenseite zu ihr stürmen, um festzustellen, ob sie unversehrt ist, obwohl sie es eindeutig ist. Der junge Mann bückt sich, legt die Arme um Emina. Der Mann mit dem Hut rennt weiter, ohne stehen zu bleiben. Der junge Mann blickt ungläubig auf, als er vorbeiläuft, ruft ihm zu, dass er Hilfe braucht. Der Mann mit dem Hut hört ihn entweder nicht, oder er geht nicht darauf ein. Kurz bevor er in den Schutz des Güterwaggons kommt, fällt ein weiterer Schuss, und sein Hut fliegt davon und landet zu Dragans Füßen. Dragan starrt auf den Hut, der umgekehrt auf dem Asphalt gelandet ist. Er kann das Etikett des Hutes sehen, liest, dass er in Wien hergestellt wurde. Er schaut nach vorn, sieht den Besitzer des Hutes auf dem Bauch liegen.
    Den Menschen rundum wird klar, dass der Heckenschütze weitaus dichter an die Ecke des Güterwaggons schießen kann, als sie dachten. Alle bis auf Dragan ducken sich, und einen Moment lang wird er an einen Schwarm Vögel erinnert, die mitten im Flug gleichzeitig beidrehen, als würden sie ferngesteuert. Dann packt ihn eine Hand, und er begreift, dass er in Gefahr schwebt, und wirft sich wie die anderen hin. Sie ziehen sich zurück, bleiben so dicht am Boden, wie sie können, bis sie von der Straße weg sind, etwa zehn Schritte von dem Mann entfernt, der keinen Hut mehr hat.
    Der junge Mann hat Emina hochgehoben, und Dragan sieht, dass sie am Leben ist. Ein Arm hängt herab, der Ärmel ist mit Blut getränkt, aber sie hat die Augen geöffnet und hält sich mit der heilen Hand an der Schulter ihres Retters fest. Eine Kugel schlägt ein paar Schritte vor ihm auf den Asphalt. Er reagiert nicht, läuft unbeirrt weiter, langsam und unbeholfen, und Dragan glaubt nicht, dass er es schafft.
    Als sie an dem Mann ohne Hut vorbeikommen, den Dragan für tot gehalten hat, hebt er eine Hand, matt und flehend. Allem Anschein nach kann er aus eigener Kraft nicht aufstehen. Der junge Mann geht weiter, ohne ihn zu beachten. Emina blickt auf ihn hinab, sagt nichts und schaut dann weg.
    Dragan versucht, die Sekunden zu zählen, die seit dem letzten Schuss des Heckenschützen vergangen sind, überlegt, wie viel Zeit sie wohl noch haben, bis die nächste Kugel kommt. Er weiß jedoch nicht, wie lange es her ist, und hat keine Ahnung, wie lange es dauert, bis der Heckenschütze sein Ziel erfasst hat und wieder feuert.
    Emina und der junge Mann sind noch fünf Schritte von ihm entfernt, dann drei, und dann sind sie da. Sie stürzen hinter ihm zu Boden, und er hört Emina aufschreien. Dragan dreht sich nicht um. Er kann den Blick nicht von der Straße wenden, wo der Mann ohne Hut wegzukriechen versucht, Zentimeter für Zentimeter, auf die Deckung zu. Eine immer größer werdende Blutlache umgibt ihn, und obwohl Dragan weiß, dass die Straße rundum voller Lärm ist, hört er keinen Ton. Er zählt lautlos, langsam, Ziffer für Ziffer. Als er bei acht ist, zerplatzt der Kopf des Mannes ohne Hut, und der feine rote Sprühregen wird begleitet vom

Weitere Kostenlose Bücher