Der Cellist von Sarajevo
strahlend helle Häuser ohne Kriegsschäden. Niemand wird von den Bergen aus ein Gewehr auf ihn richten, und nach einer Weile wird er das nicht einmal mehr als eine Wohltat empfinden, es wird einfach selbstverständlich werden, denn so sollte das Leben eigentlich sein. Sie werden glücklich sein. Sie werden niemanden hassen, und keiner wird sie hassen.
In den Bergen hinter ihm schlägt eine Granate ein. Er hört das Rattern von Schnellfeuergewehren, dann schlägt eine weitere Granate ein. Es ist wie eine Unterhaltung, ein Zwiegespräch der Waffen. Er ist wieder in Sarajevo. Er hat keinen Tunnelpass in der Tasche und wird auch nie einen haben. Heutzutage kommt niemand mehr aus der Stadt. Er bestimmt nicht.
Er sitzt da und hört zu, wie die Männer auf den Bergen und die Verteidiger mit Geschossen streiten. Niemand überquert die Straße. Es warten kaum noch Menschen, da sich die meisten für einen anderen Weg entschieden haben, wahrscheinlich die Bahngleise weiter nördlich überqueren und im Schutz einer Barrikade aus Eisenbahnwagen und Beton von Ost nach West laufen wollen. Vielleicht ist es dort sicherer, vielleicht auch nicht. In den Bergen liegt mehr als ein Heckenschütze auf der Lauer. Wenn sie wollen, haben sie genügend Männer für jede Kreuzung.
Er fragt sich, worüber sie da droben nachdenken, im Schutz ihrer Berge. Möchten sie, dass es vorüber ist? Sind sie froh, wenn sie etwas treffen, oder genügt es ihnen, die Menschen zu erschrecken, zuzusehen, wie sie um ihr Leben laufen? Bereuen sie es, wenn sie heimkommen und ihre Kinder sehen, oder freuen sie sich, weil sie glauben, sie hätten künftigen Generationen einen großen Dienst erwiesen? Dragan hat nie verstanden, auch vor Kriegsausbruch nicht, warum sie Menschen wie ihn für so eine Bedrohung halten. Er begreift immer noch nicht, was sie damit erreichen wollen, wenn sie ihn töten, was für eine Auswirkung das auf irgendjemand haben sollte, von ihm einmal abgesehen.
Dragan möchte nicht nach Italien. Er vermisst seine Frau und seinen Sohn, aber er ist kein Italiener und wird auch nie einer werden. Egal, in welches Land er ginge, er wäre trotzdem immer einer aus Sarajevo. Hier ist seine Heimat, und das ist die Stadt, in der er sein möchte. Er möchte nicht sein ganzes Leben im Belagerungszustand verbringen, aber wenn man die Stadt den Männern auf den Bergen überließe, wäre er für alle Zeiten heimatlos. Solange er hier ist, solange er verhindern kann, dass ihn die Todesangst überwältigt, blind macht für das, was von der Welt noch übrig ist, die er einst geliebt hat und vielleicht wieder lieben wird, besteht noch die Hoffnung, dass eines Tages keine Männer mehr mit Gewehren auf den Bergen sind, dass er jederzeit mit seiner Frau und seinem Sohn durch die Straßen der Stadt laufen, in einem Restaurant essen oder unbehelligt einen Schaufensterbummel machen kann.
Er weiß, dass er nie mehr vergessen kann, was hier geschehen ist. Wenn der Krieg zu Ende geht, wenn das Leben wieder halbwegs so sein wird, wie es einst war, und er überleben sollte, wird er es nicht erklären können, wie so etwas möglich war. Eine Erklärung erfordert Vernunft, aber im Moment gibt es in Sarajevo keine Vernunft. Er kann immer noch nicht glauben, was geschehen ist. Hoffentlich wird er nie dazu in der Lage sein.
Strijela
Die Glühbirne in Nermin Filipovićs Büro wirkt bedrückender denn je. Strijela würde ihr am liebsten einen Stoß versetzen, damit sie an die Decke fliegt und zerspringt. Sie widersteht der Versuchung, weiß, dass auf das Klirren der zerbrechenden Birne hin sofort ein Adjutant ins Zimmer gestürmt käme, um nachzusehen, was los ist, und sie auswechseln würde. Damit wäre gar nichts erreicht. Wahrscheinlich würde es ihr hinterher nicht einmal besser gehen.
Fast eine halbe Stunde lang sitzt sie allein da, bis Nermin kommt. Er sieht aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Er scheint kaum Notiz von ihr zu nehmen.
»Es ist erledigt«, sagt sie, als er sich auf seinen Stuhl sinken lässt.
»Ist er tot?«, fragt Nermin und schaut sie an.
Strijela nickt. So hat sie ihn noch nie gesehen, und sie weiß nicht, wie sie sein Verhalten einschätzen soll.
»Wer?«
Strijela schaut ihn mit ausdrucksloser Miene an. Sie versteht die Frage nicht.
»Der Cellist oder der Heckenschütze?«, fragt er und beugt sich vor.
»Der Heckenschütze«, sagt sie mit tonloser Stimme. Sie rührt sich nicht, will nicht, dass ihre Körpersprache verrät,
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