Der Cellist von Sarajevo
wie ihr zumute ist.
»Gut.« Ein Adjutant, ein halbwüchsiger Junge, der noch nicht alt genug ist, um sich rasieren zu müssen, bringt ein Tablett mit zwei Kaffeetassen. Nermin nimmt eine, reicht Strijela die andere. Sie zögert kurz, bevor sie zugreift, was ihr einen erstaunten Blick von Nermin einträgt. Der Junge nimmt sein Tablett, geht und schließt die Tür hinter sich.
Nermin trinkt einen Schluck Kaffee. »Sie wirken bedrückt.«
Strijela sagt nichts. Sie trinkt ihren Kaffee und blickt zu Boden.
Eine Zeitlang spricht keiner von beiden. »Vielleicht haben Sie das lange genug gemacht«, sagt er dann in einem Tonfall, den Strijela noch nie bei ihm gehört hat. »Vielleicht sollten Sie jetzt aufhören.«
Strijela blickt weiter zu Boden. »Der Heckenschütze hatte freies Schussfeld. Die ganze Zeit. Aber er hat nicht geschossen. Er hat dem Cellisten zugehört.«
Nermin schüttelt den Kopf. »Sie haben mich nicht verstanden.«
Sie fährt fort. »Ich habe ihn getötet, weil er auf mich geschossen hat und ich mich nicht darauf verlassen konnte, dass er ihn später nicht erschießt. Mir blieb nichts anderes übrig.«
»Nein. Aber hier geht es nicht um den Cellisten. Es wird Zeit, dass Sie verschwinden.«
Strijela blickt auf. Er schaut sie mit blutunterlaufenen Augen an. »Verschwinden?«
Er leckt sich die Lippen und schaut weg. »Ich kann Sie nicht mehr decken. Unsere Bedingungen lassen sich nicht mehr einhalten.«
»Das verstehe ich nicht.« Wohin, fragt sie sich, soll ich verschwinden? Die Stadt ist eingekesselt. Niemand kann verschwinden, selbst wenn er wollte.
»Die Männer auf den Bergen haben Ungeheuer erschaffen«, sagt er, »und nicht alle sind in den Bergen. Hier gibt es Leute, die glauben, dass sie im Recht sind, weil sie etwas bekämpfen, das von Übel ist. Sie benutzen diesen Krieg und die Stadt für ihre eigenen Zwecke, und damit will ich nichts zu tun haben. Wenn die Stadt so wird, sobald der Krieg vorüber ist, dann war sie es nicht wert, gerettet zu werden.«
»Was haben sie vor?«, fragt sie. Es gibt dieser Tage so viele Gerüchte, dass sie nicht mehr weiß, was sie glauben soll. Die meisten lassen sich mühelos als Propaganda abtun, aber einige davon, nun ja, einige bringen sie zum Grübeln.
Nermin trinkt einen letzten Schluck Kaffee und stellt die leere Tasse auf den Schreibtisch. »Sie sollten verschwinden, sofort, damit Sie das nicht erfahren müssen.« Er steht auf, was früher immer das Zeichen war, dass sie gehen kann, aber sie rührt sich nicht von der Stelle.
»Was wird aus Ihnen?«
Er tritt hinter dem Schreibtisch hervor und bleibt neben ihr stehen. »Ich rechne damit, dass ich jeden Moment von meinem Kommando entbunden werde.«
Strijela steht auf, und als er sich vorbeugt, um sie auf beide Wangen zu küssen, schließt sie ihn in die Arme. Obwohl er stets auf Distanz geachtet hat, ist er für sie fast so etwas wie ein Freund geworden. Sie dreht sich um und will gehen, worauf er ihre Schulter ergreift und sagt: »Ihr Vater hätte mir nie vergeben, dass ich Sie zur Soldatin gemacht habe.«
Strijela dreht sich nicht um. Sie legt ihre Hand auf seine. »Mein Vater ist tot«, sagt sie, »und ich vergebe Ihnen.«
Das Gewehr auf ihrer Schulter fühlt sich so schwer wie nie zuvor an, als sie das Büro verlässt und auf die helle Straße tritt. Sie denkt darüber nach, was er über den Kampf gegen das Übel gesagt hat, und fragt sich, ob sie das Gleiche glauben könnte. Hält sie sich für gut, weil sie üble Männer tötet? Ist dem so? Spielt es eine Rolle, warum sie sie tötet? Sie weiß, dass sie sie nicht mehr tötet, weil sie ihre Mitbürger töten. Jedenfalls nur zum Teil. Sie tötet sie, weil sie sie hasst. Fragt sich nur, ob es für sie spricht, dass sie einen guten Grund hat, sie zu hassen. Vor einem Monat hätte sie diese Frage sofort bejaht. Jetzt ist sie sich nicht mehr sicher. Jetzt fragt sie sich, wer darüber entscheidet, was ein guter Grund ist und was nicht.
Sie weiß nicht, was aus Nermin werden wird. Wenn er recht hat, wenn man ihn von seinem Kommando entbindet, gibt es keinen sicheren Ort mehr für ihn. Die Männer auf den Bergen werden ihm gegenüber keine Gnade zeigen. Vielleicht hat er noch so viele Beziehungen, dass er sich außer Landes begeben kann. Es dürfte schwer werden. Die meisten Länder nehmen niemanden auf, der an den Kämpfen beteiligt war, und Nermin ist zu bekannt, als dass er sich unbemerkt absetzen könnte. Wahrscheinlich wäre er am besten
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