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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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Schließlich werden jeden Tag Menschen getötet. Mord ist gang und gäbe. Warum sollte es hier anders sein?
    Einige Stunden lang wartet Strijela und hofft, dass Nermin irgendwie davongekommen ist, dass er noch irgendein Ass im Ärmel hatte. Dann, als fast alle anderen weg sind, tragen zwei Soldaten eine in eine Decke gehüllte Leiche aus dem Gebäude. Sie laden sie auf einen Lastwagen und fahren davon. Sie schultert ihr Gewehr, wendet sich ab und begibt sich auf den langen Heimweg.
     
    Der Artilleriebeschuss lässt nicht nach. Die Männer auf den Bergen sind die ganze Nacht über beschäftigt. Strijela liegt in ihrem Bett und horcht auf die Einschläge der Granaten, das Rattern der Schnellfeuergewehre, die Sirenen. Sie fragt sich, was noch stehen wird, wenn der Morgen anbricht, ob die Stadt merklich anders aussehen wird. Irgendwann muss der Punkt erreicht sein, an dem jede weitere Zerstörung überflüssig wird, da so vieles in Trümmern liegt, dass es auf ein paar weitere Schäden auch nicht mehr ankommt. Möglicherweise ist es schon so weit.
    Ist das bei Menschen genauso? Sie weiß es nicht. Eigentlich sollte sie über Nermins Tod betroffener sein, vielleicht auch wütender, aufgebrachter, ist es aber nicht. Sie kann nicht einmal behaupten, dass sie überrascht ist.
    Es ist kalt heute Nacht, und der Strom ist wieder ausgefallen. Sie hat kein Brennholz mehr für ihren behelfsmäßigen Ofen, hat keines organisiert. Sie bibbert unter ihren Decken, steht auf und holt sich aus dem Flurschrank noch ein paar, kehrt ins Bett zurück und bibbert weiter. Ihr Magen knurrt, weil sie zum Abendessen nur ein bisschen Reis und dünnen Tee zu sich genommen hat. Sie kann Reis nicht ausstehen. Vor dem Krieg hat sie nie welchen gegessen, von einer Ausnahme einmal abgesehen, als sie im Urlaub in einem indischen Restaurant war. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie ihn damals nicht mochte, aber jetzt widert sie der bloße Gedanke an Reis an. Aber das ist alles, was von der letzten Lebensmittelzuteilung übrig ist. Vom Militär bekommt sie Zigaretten als Sold, die sie gegen Kleinigkeiten wie eine Tafel Schokolade oder ein Stück Seife eintauscht. Vor einer Woche konnte sie einen Beutel Äpfel ergattern, die weich und mehlig waren, aber dennoch waren sie den lächerlich hohen Preis wert, den sie in einem schwachen Moment dafür bezahlt hat. Sie hat noch Zigaretten zum Eintauschen, eine ganze Schublade voll, aber die will sie nicht anrühren. Irgendwie käme ihr das wie Verschwendung vor, zumal sie das Gefühl nicht loswird, dass sie sie später vielleicht noch braucht. Deshalb isst sie Reis, braucht allmählich den Zehn-Kilo-Sack in der Küchenecke auf und begnügt sich dazu mit Brot und dünnem Tee.
    »Verschwinden Sie«, hat Nermin ihr aufgetragen. Er hat recht, sie sollte verschwinden. Ihr Zigarettenvorrat könnte reichen, damit man sie durch den Tunnel lässt. Sie hat keine Ahnung, wieviel der Pass kostet. Aber sie muss ständig an Slavkos Beerdigung denken, an den fetten Mann und das Grab. Ist es ein Unterschied, ob man verschwindet oder sich in ein Grab legt? Spielt es eine Rolle, ob sie sich den Männern auf den Bergen oder denen in der Stadt unterwirft?
    Natürlich muss sie ans Überleben denken. Sie möchte nicht sterben. Sie möchte von niemandem erschossen werden, egal, ob er auf den Bergen ist oder in der Stadt. Aber das junge Mädchen, das einmal von schierer Lebenslust überwältigt wurde, das so glücklich, ängstlich und ergriffen war, dass es an den Straßenrand fahren musste, möchte auch nicht sterben. Das Mädchen mag jetzt nicht mehr da sein, mag keinen Platz mehr in der Stadt haben, aber Strijela glaubt, dass es möglicherweise eines Tages zurückkehrt. Und sie weiß, dass sie dieses Mädchen tötet, dass es nicht zurückkehrt, wenn Strijela verschwindet.
    Dann ist da noch der Cellist. Ein Teil ihres Auftrags ist erledigt. Sie hat den Heckenschützen getötet, der auf ihn angesetzt war. Aber wenn der Cellist sein Versprechen wahrmacht, und davon ist Strijela überzeugt, dann ist er noch nicht fertig. Folglich wird man einen weiteren Heckenschützen losschicken. Einen Freiwilligen werden sie nicht so leicht finden, da jeder weiß, was mit seinem Vorgänger passiert ist, aber die Möglichkeit besteht. Und wo wird sie dann sein? Wird sie den Cellisten beschützen? Sie möchte es. Wenn es in ihrer Macht liegt, wird sie es auch tun.
    Strijela wird vom Getrampel schwerer Stiefel im Treppenhaus geweckt. Sie weiß nicht

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