Der Cellist von Sarajevo
beraten, wenn er sich bedeckt hielte, bis der Krieg vorüber ist. Wenn die Männer auf den Bergen nicht siegen, dann ändert sich vielleicht alles, und er kann in Friedenszeiten wieder zu Rang und Würde kommen. Sie weiß zwar nicht, wie ein Berufssoldat das anstellen könnte, aber geringere Könner haben schon Größeres vollbracht. Sie hofft, dass sie eines Tages in der Lage sein wird, ihm zu helfen.
Sie ist drei Häuserblocks weiter, als das Artilleriefeuer einsetzt. Es war ein ruhiger Tag, größtenteils jedenfalls, aber jetzt wird der Himmel dunkler, und die Männer auf den Bergen haben eine gewisse Vorliebe dafür, die anbrechende Nacht mit Granaten einzuläuten. Sie fragt sich oft, ob sie bei dem Beschuss an ein Feuerwerk denken.
Die ersten schlagen im Westen ein, in Mojmilo und Dobrinja. Dann gehen ein paar näher nieder, in Richtung Grbavica, aber am anderen Flussufer, in der Gegend von Baščaršija. Die Menschen rundum laufen schneller, wollen heim in ihre Keller und Schutzräume, wo sie wahrscheinlich die ganze Nacht verbringen werden. Strijela geht nicht mehr mit den anderen Hausbewohnern in den Keller, wenn sie beschossen werden. Angesichts dessen, was sie Tag für Tag treibt, scheint ihr das nicht der Mühe wert. Sie schwebt bei ihrem Tagewerk in weitaus größerer Gefahr als selbst beim schlimmsten nächtlichen Beschuss, folglich kann sie ebenso gut in ihrem eigenen Bett schlafen. Wenn sie schon umkommen sollte, dann wenigstens dort. Es ist eine Art Halt in einer außer Rand und Band geratenen Welt.
Sie will gerade um die Ecke gehen und in Richtung Norden laufen, als ein Junge an ihr vorbeirennt, sie mit dem Arm an der Schulter streift und fast umreißt. Er bleibt nicht stehen, wirft aber einen kurzen Blick zurück, so dass sie ihn wiedererkennt – der Junge, der in Nermins Büro kam und Kaffee brachte. Er sieht jünger aus als vorhin, ist kreidebleich und wirkt verängstigt, und er läuft schnell, viel schneller als alle anderen. In den Bergen über ihr schlagen mehrere Granaten ein, lenken sie ab, und der Junge ist weg. Sie schüttelt den Kopf, fragt sich, warum Nermin einen derart schreckhaften Jungen in seinem Stab duldet. Dann bleibt sie stehen, als ihr klar wird, dass er das nicht tun würde.
Der Junge hat keine Angst vor den Granaten. Irgendetwas stimmt hier nicht. Sie dreht sich um und geht zurück. Sie hat ein Rauschen in den Ohren, wie bei einem schlecht eingestellten Radio, und ist selbst überrascht, dass sie rennt. Die Schäftung ihres Gewehrs schlägt schmerzhaft an ihre Rippen, und ihre Stiefel fühlen sich an, als wären sie voller Wasser, schwer und schwabblig. Sie braucht kaum eine Minute, aber es kommt ihr so vor, als liefe sie stundenlang die Häuserzeilen entlang.
Mit einer fließenden Bewegung streift sie das Gewehr von der Schulter und nimmt es in die Hände. Im gleichen Augenblick wird ihr klar, dass es lediglich ein Reflex ist. Mit dem Gewehr lässt sich gar nichts lösen, was immer auch geschehen mag.
Doch sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken, denn kaum ist das Hauptquartier in Sicht, als eine Explosion die Türen aus dem Gebäude reißt und das Sperrholz, mit dem die Fenster vernagelt waren, durch die Luft wirbelt. Dann schlagen Feuerzungen nach draußen, und Staub und Trümmer regnen nieder.
Strijela weiß nicht, ob sie von der Explosion von den Beinen gerissen wurde oder sich zu Boden geworfen hat. Zunächst nimmt sie nicht einmal wahr, dass sie auf dem Bauch liegt und das Gebäude durch das Zielfernrohr ihres Gewehrs betrachtet.
Nermins Büro ist im Erdgeschoss des dreistöckigen Gebäudes. Auch die übrigen Räume sind vom Militär in Beschlag genommen. Strijela weiß nicht, wozu sie genutzt werden, aber ihr ist sofort klar, dass sich niemand in ihnen aufhielt, als das Haus explodierte. Nur ein Büro war besetzt.
Die Feuerwehr trifft ein und löscht die Flammen. Männer in Uniform riegeln das Gebäude ab und durchsuchen es. Sie finden keine Überlebenden. Ein Glück, sagen sie, dass die Granate nach der normalen Arbeitszeit einschlug. Ein kleines Wunder.
Strijela hört sie miteinander reden, und ihrer Ansicht nach sind sich alle darüber im Klaren, dass das Gebäude nicht von einer Granate getroffen wurde. Niemand spricht es aus, aber vielleicht wussten sie sogar Bescheid. Jedenfalls ereignete sich die Explosion im Inneren, und sie wurde nicht durch eine von den Männern auf den Bergen abgeschossene Granate ausgelöst. Aber niemand sagt etwas.
Weitere Kostenlose Bücher