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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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ausgehoben hat. Ein Graben dient zur Kriegführung, und zwar ausschließlich. Aber auf diesen Straßen, den Straßen seiner Stadt, ist er mit Riza Hand in Hand spazierengegangen und hat mit Davor gelacht. Heute hat er sich mit einer alten Freundin auf einer dieser Straßen unterhalten. Zwar mag auch auf ihnen Krieg geführt werden, aber früher hatten sie wesentlich mehr zu bieten. Das bedeutet ihm etwas, auch wenn er es nicht benennen kann.
    Er weiß, dass er Emina hätte helfen sollen. Er hätte mit dem jungen Mann auf die Straße stürmen und ihm beim Wegtragen beistehen können. Vielleicht wären sie dann schneller vorangekommen. Aber möglicherweise hätte der Heckenschütze dann auf sie geschossen, statt auf den Mann mit dem Hut. Über das Ergebnis lässt sich nicht streiten. Dennoch, er hat sich nicht gerührt, als die Schüsse fielen. Nicht aus irgendwelchen Vernunftgründen, sondern weil er Angst hatte. Wenn er dadurch ein Feigling ist, dann soll es ihm recht sein. Er ist nicht für den Krieg geschaffen. Er will auch nicht für den Krieg geschaffen sein.
    Dragan schaut nach Osten, dorthin, wo sich die Wohnung seiner Schwester befindet. Er überlegt, ob er den Marsch zur Bäckerei abbrechen und zurückkehren soll. Sein Schwager ist gar nicht so übel, vielleicht finden sie ein Gesprächsthema, mit dem sie die Kluft, die zwischen ihnen besteht, überwinden können. Vielleicht können sie gemeinsam Kaffee trinken, wenn noch welcher übrig ist, wenn Wasser da ist und Brennholz zum Kochen. Er kann auch morgen noch zur Bäckerei gehen, wenn er ohnehin zum Dienst antreten muss.
    Doch er möchte nicht heimgehen, weiß es, sobald er daran denkt. Er wendet den Kopf nach Südwesten, wo er, wenn er an der Bäckerei vorbei und dann durch Mojmilo und Dobrinja ginge, auf den gar nicht so geheimen Tunnel stoßen würde, der unter dem Flughafen hindurch auf freies Gebiet führt.
    Er stellt sich vor, wie er einem bewaffneten Posten am Tunneleingang einen Pass aushändigt. Woher er den haben könnte, weiß er nicht, aber niemand darf ohne Pass hinein, und er stellt sich vor, wie der Posten seinen inspiziert, bevor er ihn durchlässt. Er duckt sich und betritt den Tunnel. Er ist schlecht beleuchtet, und die Luft ist stickig. Er braucht eine Dreiviertelstunde für die siebenhundertsechzig Meter. Am Boden steht stellenweise Wasser, und er muss aufpassen, damit er nicht über die Gleise stolpert, auf denen kleine Karren verkehren. Er hat gehört, dass einige Politiker und andere wichtige Männer manchmal mit diesen Karren fahren, sich von Soldaten schieben lassen, aber ihn schiebt keiner. Er macht ihm nichts aus, er würde es sowieso ablehnen, wenn man es ihm anböte. Der Tunnel führt unter dem von ausländischen Soldaten gesicherten Flughafen hindurch, auf dem viele Menschen beschossen wurden, als sie über das Vorfeld liefen. Keiner dieser Menschen bekam die Erlaubnis, durch den Tunnel zu laufen. Die Männer auf den Bergen konnten sie abschießen wie Enten auf einem Teich.
    Als er sich dem Ende des Tunnels nähert, werden die Wände breiter und höher. Er kann aufrecht stehen, und die Luft ist etwas frischer. Als er auf dem freien Gebiet von Butmir herauskommt, ist er nur acht Kilometer vom Haus seiner Schwester entfernt. Mit dem Auto eine Viertelstunde. Aber er ist frei. Zwei Stunden mit dem Bus, und er ist an der Küste. Eine Fähre wird ihn nach Italien bringen. Die ganze Reise dauert knapp einen Tag. Von Sarajevo aus sind es weniger als fünfhundert Kilometer Luftlinie bis nach Rom. Eine Stunde mit dem Flugzeug. Anderthalb Stunden bis Paris. Zwei Stunden bis London. Aber er wird nach Italien gehen, weil dort seine Frau und sein Sohn sind.
    Zunächst werden sie nicht glauben, dass er da ist. Sie werden ihn mit offenem Mund anstarren und sich fragen, ob er ein Gespenst ist. Doch er wird sie vom Gegenteil überzeugen, und dann werden sie außer sich sein vor Freude. Davor wird ihm um den Hals fallen, die Arme um seinen Rücken schlingen, so wie früher, als er noch klein war. Riza wird ihn küssen und die Haare an seinem Hinterkopf kraulen. Er wird sich mit kochend heißem Wasser duschen und mit einem weichen, frischen Handtuch abtrocknen. Sie werden in ein Restaurant gehen, und er wird essen, was ihm schmeckt, und sich bewusst sein, dass er es morgen wieder machen kann, dass es noch vieles andere mehr gibt. Sie werden durch die Straßen laufen, sich die Schaufenster angucken. Er wird Bäume mit grünem Laub sehen und

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