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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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sie. »Aber wahrscheinlich stimmt es nicht.«
    »Wahrscheinlich nicht«, pflichtet er ihr bei. »Trotzdem ist es schön, zur Abwechslung mal mit jemandem zu arbeiten, der etwas von seinem Handwerk versteht.«
    Er drückt seine Zigarette aus und öffnet eine Tür, die ins Treppenhaus führt. »Was halten Sie vom vierzehnten?«
    »Meinetwegen«, sagt sie.
    Schweigend steigen sie vierzehn Stockwerke empor. Das Treppenhaus ist dunkel, und das einzige Licht stammt von der kleinen Taschenlampe, die Hasan nach vorn gerichtet hat. Es riecht nach Rauch. Irgendwann zählt sie die Treppen nicht mehr mit, so dass sie mit ihm zusammenprallt, als sie ihr Stockwerk erreichen und er stehen bleibt, um die Tür zu öffnen.
    »Entschuldigung«, sagt sie.
    »Keine Ursache.« Er schaltet die Taschenlampe aus und steckt sie ein, dann verlassen sie das Treppenhaus.
    Hasan hat sie nicht veräppelt, als er sagte, in den oberen Stockwerken sehe es schlimmer aus. Alles, was nicht verbrannt ist, wurde von Granaten zerfetzt. Sämtliche Räume sind mit Glasscherben, verbogenen Metallteilen und anderen undefinierbaren Trümmern übersät, und der Wind pfeift durch die offenen Fensterhöhlen und die klaffenden Löcher im Gemäuer.
    »Sind Sie bereit für die Jagd?«, fragt er leise und wirkt jetzt nicht mehr so unbekümmert.
    »Nein«, sagt sie, »bin ich nicht.«
    Hasan tritt einen Schritt zurück und schaut sie an. »Das verstehe ich nicht.«
    »Was genau machen wir hier?« Sie stellt die Frage etwas lauter als beabsichtigt.
    »Das ist was Einfaches. Oberst Karaman will wahrscheinlich sichergehen, dass Sie so gut sind, wie man sagt, bevor er Ihnen einen schwierigeren Auftrag gibt. Wir beziehen unsere Stellung, ich suche ein Ziel aus, und Sie schießen. Ganz einfach. Das schaffen Sie schon.« Er schaut sie erwartungsvoll an.
    »Auf wen schießen wir?«
    Hasan zuckt die Achseln. »Das habe ich noch nicht entschieden. Einen von denen. Mal sehen, wer sich anbietet.«
    Strijela fragt sich, weshalb sie hier gelandet ist, wie sie sich so in die Enge drängen lassen konnte. Ihr fällt kein Grund ein, und das ärgert sie.
    »Hier entlang«, sagt Hasan und führt sie durch einen Korridor zur Südseite des Gebäudes. Als sie knapp fünf Meter vom Fenster entfernt sind, bedeutet er ihr, dass sie sich hinlegen soll, worauf sie das letzte Stück vorwärtsrobben. An der Außenmauer angekommen, deutet er zu den Fenstern empor und richtet sich auf. Die Fenster befinden sich etwa einen Meter über dem Boden und bieten keinerlei Deckung. Von hier aus kann sie nur im Stehen schießen, so dass sie für jeden, der in Grbavica oder den darüberliegenden Bergen mit einem Gewehr auf der Lauer liegt, ein leichtes Ziel abgibt.
    »Nein«, sagt Strijela. »Dort.« Sie deutet auf ein etwa einen halben Meter breites Loch in der Wand. Einen Moment lang meint sie, Hasan wolle ihr widersprechen, aber er ist einverstanden, worauf sie zu dem Loch robben. Sie geht in Stellung, und Hasan legt sein Gewehr hin und holt einen Feldstecher aus seinem Overall. Er richtet sich auf, hält durchs Fenster kurz Ausschau und duckt sich wieder.
    »Das ist eine gute Stelle«, sagt er.
    Strijela blickt durch ihr Zielfernrohr. Grbavica ist völlig verwüstet. Sie findet nicht ein Gebäude, das nicht von Treffern gezeichnet ist. Die Straßen sind kaum mehr als solche zu erkennen. Der Belag ist aufgerissen, mit zermalmten Autos und Mauertrümmern übersät. Sie sieht ein paar Menschen, aber keine Soldaten. Sie kennen die Sichtachsen dieses Gebäudes und wissen, dass sie sich davon fernhalten müssen. Sie fragt sich, wie sie von hier aus ein Ziel finden sollen.
    »Ich habe früher da drüben gewohnt«, sagt Hasan. »Sehen Sie das rote Haus, etwa hundert Meter westlich der Brücke?«
    Sie sieht es. Es liegt genau an der Front und ist schwer beschädigt. Vor dem Krieg muss das eine schöne Wohngegend gewesen sein, direkt am Fluss, mit vielen Bäumen.
    »Ich war auf der Arbeit, als die Männer auf den Bergen mit ihren Panzern angerückt sind und alles eingenommen haben. Ansonsten wäre ich jetzt tot. Sie haben meinen jüngeren Bruder umgebracht, der noch nie einem Menschen etwas zuleide getan hat. Meinen Vater ebenfalls. Wo meine Mutter und meine Schwestern sind, weiß ich nicht. Ich habe lediglich erfahren, dass sie nicht mehr in Grbavica sind.«
    Strijela weiß nicht, was sie sagen soll. Es ist keine ungewöhnliche Geschichte. Sie ist sich nicht sicher, ob er erwartet, dass sie etwas sagt. Hoffentlich

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