Der Cellist von Sarajevo
Frauen es in der Stadt gibt, wie viele Menschen wie Gespenster durch die Straßen ziehen. Sie müssen zahlreich sein. Man kann auf jedem freien Stück Land Gräber ausheben, kann jeden Park, jeden Fußballplatz und Garten in einen Friedhof verwandeln, und dennoch kann man die Toten nicht alle erfassen. Auch unter den Lebenden weilen Tote, und sie werden noch lange hier sein, auch wenn dieser Wahnsinn endet, falls er denn jemals endet.
Er denkt an Frau Ristovski. Er weiß nicht, wie sie so geworden ist, aber irgendetwas hat sie abgetötet – er erkennt jetzt, dass auch sie ein Gespenst ist. Schon seit langem. Und ein Gespenst zu sein, wenn man noch lebt, ist das Schlimmste, was er sich vorstellen kann. Denn ob es einem gefällt oder nicht, früher oder später werden wir alle Gespenster, werden wir von der Erde getilgt, bis selbst die Erinnerung an uns vergangen ist. Aber es gibt eine Zeit, da wir es nicht sind, und man muss den Unterschied erkennen. Sobald man das vergisst, ist man ein Gespenst.
Kenan will nicht zum Gespenst werden. Dieser Stadt hat man im Namen von Gespenstern schon genug angetan. Er sagt sich das, als werde es dadurch zu einer Tatsache. Du bist kein Gespenst. Du bist kein Gespenst. Aber während er es ein ums andere Mal wiederholt, wird ihm klar, dass es durch bloßes Einreden keine Tatsache wird. Sämtliche Worte auf der Welt können nicht verhindern, dass er vergeht.
Er sieht Ismet aus dem Markt kommen und zu der Stelle gehen, wo er auf ihn warten sollte. Kenan nimmt sein Wasser und geht weg. Wenn Ismet ihn nicht findet, wird er sich wahrscheinlich denken, er sei müde geworden und wollte sein Wasser heimbringen. Er wird ihn später sehen. Sie werden sich einen Witz erzählen, über ihre Familien reden und darauf hoffen, dass die Sache bald vorüber ist. Sie werden Sarajevo wiederaufbauen, wenn es so weit ist. Sie werden jeden Stein wieder vermauern, sämtliche Fenster ersetzen, alle Löcher flicken. Sie werden die Stadt wiederaufbauen, ohne zu wissen, ob es das letzte Mal sein wird. Sie werden sich auf jede erdenkliche Weise das Recht dazu verdienen, und wenn es erledigt ist, werden sie sich ausruhen.
Kenan wendet sich nach Süden, weg von zu Hause. In ein paar Stunden wird es dunkel, aber vorher wird er längst daheim sein. Er läuft in Richtung Cumurija-Brücke, wo zwei Wasserflaschen ohne Henkel in einem kleinen Loch auf ihn warten.
Strijela
Sie bringen sie zu den Überresten des Parlamentsgebäudes, eines der höchsten Gebäude in der Stadt. Die Männer auf den Bergen haben es mit Hunderten von Granaten eingedeckt, in Brand geschossen und dann Hunderte weitere Granaten darauf abgefeuert. Dieses Hochhaus wurde nicht nur deshalb zum bevorzugten Ziel, weil es das Sinnbild für eine Regierung ist, die zu vernichten sie gelobt haben. Es geht dabei auch um praktische Gründe. Von den oberen Stockwerken dieses Gebäudes aus kann man das ganze besetzte Grbavica einsehen.
Strijela hatte dieses Gebäude immer gemieden, teils weil es eine allzu offenkundige Verteidigungsstellung abgab und daher häufig unter Beschuss lag, teils weil sich dort allerlei andere Angehörige ihrer Armee aufhielten. Ihrer Ansicht nach war das Gelände bereits in Beschlag genommen.
Im Foyer, das erstaunlich heil geblieben ist, wartet ein Mann auf sie. Er steht bei den Aufzügen und raucht eine Zigarette. Am Eingang sind zwei Wachen postiert, aber sie achten kaum auf sie und ihre Begleiter. Sie geht über den Marmorboden, an zwei großen, grünen Zimmerpflanzen vorbei.
»In den oberen Stockwerken sieht’s schlimmer aus«, sagt der Mann, der sie erwartet, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Die drei Männer, die seit diesem Morgen an ihr hängen wie Schnecken an einem Blatt, sind offenbar der Überzeugung, dass sie ihren Auftrag erfüllt haben, nicken dem Mann zu und gehen.
»Sind nicht die Allerhellsten, die drei«, sagt der Mann, nachdem sie weg sind. Er ist etwa in ihrem Alter, allenfalls dreißig. Er ist groß, wirkt trotz der Lage leicht amüsiert und hat dichtes, lockiges Haar. Er trägt einen grauen Overall und hat ein halbautomatisches Gewehr in der Hand. »Ich bin Hasan«, sagt er.
»Strijela«, erwidert sie. Sie will nicht auf das freundliche Gehabe des Mannes hereinfallen.
»Natürlich. Ich habe schon von Ihnen gehört. Ich habe nicht geglaubt, dass es Sie wirklich gibt.« Er lächelt, aber sie kann nicht feststellen, ob er es ernst meint oder nicht.
»Ich weiß nicht, was Sie gehört haben«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher