Der Cellist von Sarajevo
satt, kein Stein wieder auf den anderen gesetzt. Es war reine Torheit. Ein fruchtloses Unterfangen.
Doch mit einem Mal gilt das alles nicht mehr. Kenan starrt den Cellisten an, während er spielt, und spürt, wie er ruhiger wird, während er sich der Musik hingibt. Er sieht, wie sich die Haare des Cellisten glätten, wie sein Bart verschwindet. Der schmutzige Frack wird sauber, die Schuhe glänzen wie Spiegel. Kenan hat das Stück, das der Cellist spielt, noch nie gehört, aber er kennt es trotzdem, die Töne sind ihm vertraut, erfüllen ihn mit Stolz, wie einen Jungen in einem neuen Mantel, der an der Hand seines Vaters eine winterliche Straße entlangläuft.
Die Häuser hinter dem Cellisten erstehen wieder zu alter Pracht. Die Narben, die Kugeln und Splitter gerissen haben, werden mit Putz und Farbe überdeckt, und in den Fensterscheiben spiegelt sich funkelnd die Sonne. Die Pflastersteine auf der Straße fügen sich wieder zusammen und richten sich aus. Die Menschen rundum straffen sich, ihre Gesichter werden fülliger, rosiger. Die zerschlissenen Kleidungsstücke erneuern sich, werden farbiger, glatter.
Kenan sieht, wie die Wunden der Stadt rundum verheilen. Der Cellist spielt weiter, und Kenan weiß, was er jetzt tun wird. Er wird zu seiner Wohnung gehen. Er wird jeweils zwei Treppenstufen auf einmal nehmen, ohne dass es ihm schwerfällt, und die Tür aufstoßen. Amila wird überrascht sein, wenn sie ihn sieht, und er wird sie in den Arm nehmen und küssen, so wie früher, als sie noch jung waren. Er wird mit den Fingern durch ihr dichtes, honigfarbenes Haar streichen.
Mak, ihr Sohn, wird ins Zimmer kommen und sich fragen, was das Theater soll. »Eklig«, wird er sagen, wenn er sie sieht, und Amila wird sich lachend von ihm lösen.
Gemeinsam werden sie in die Stadt gehen. Er wird seine jüngste Tochter an der Hand führen. »Papa«, wird sie sagen, »gehen wir Eis kaufen?«
Kenan wird lächeln und ja sagen, und Sanja wird aufgeregt seine Hand drücken. Aida, seine Älteste, wird erst ein bisschen schmollen, weil sie befürchtet, ihren Freund zu verpassen, mit dem sie ins Kino will, obwohl Kenan immer noch nicht genau weiß, ob er ihn mag, aber binnen kurzem wird sie sich wieder beruhigen. Sie kann nie lange sauer sein, genau wie ihre Mutter.
Sie werden durch die Stadt spazieren, durch Baščaršija, an der Bibliothek vorbei, in deren großem Saal ein Konzert unter der Glaskuppel stattfindet. In einem kleinen Restaurant unmittelbar westlich der Bibliothek, in dem er verkehrt, seit er ein Junge war, werden sie essen, bis sie nicht mehr können. Er wird Lammeintopf und Ćevapčiči zu sich nehmen und mit dem Kellner lachen, der versehentlich Kaffee auf dem Tisch verschüttet, und alle werden die Hände ausstrecken, ihr Essen in Sicherheit bringen und die heiße Flüssigkeit aufhalten, bevor sie ihnen auf den Schoß tropft. Auf dem Heimweg wird Sanja ihr Eis bekommen, und obwohl Kenan weiß, dass sie bis oben hin voll ist, besteht sie darauf, alles aufzuessen, was Amila ein wenig Sorge bereitet.
Sie werden müde, satt und schläfrig sein, deshalb werden sie mit der Straßenbahn zurückfahren, statt zu laufen, nur eine Station, und Kenan wird im Wagen stehen und sich an der Stange festhalten, während seine Familie sitzt. Die Stadt wird an ihm vorbeigleiten wie das Wasser der Miljacka, die Straßen voller Menschen, normale, fröhliche Menschen, die sich nur Gedanken darüber machen, ob es morgen regnen könnte.
Sie werden aussteigen, und Kenan wird der Straßenbahn hinterherschauen, die in Richtung Westen fährt, zum Flughafen, bis sie außer Sicht ist. Morgen wird er in aller Frühe aufstehen und vor allen anderen bei der Arbeit sein. Chelsea hat heute verloren, und er wird Goran aufziehen, ihn fragen, warum er keine bessere Mannschaft anfeuert.
Er wird seine Tochter Aida umarmen, die ins Kino will. »Sei vorsichtig«, wird er ihr sagen. »Heranwachsende Jungs machen einem nichts als Ärger.« Sie wird die Augen verdrehen, aber dann wird sie sich vorbeugen und ihm einen Kuss auf die Wange geben.
»Ich weiß, Papa«, wird sie sagen, worauf er ihr ein bisschen Geld in die Hand drücken wird.
»Kauf dir dein Popcorn selber. Dann bist du zu nichts verpflichtet.«
Wieder wird sie die Augen verdrehen, aber sie ist nicht sauer, und er wird den Arm um Amila schlingen und ihr hinterherblicken, als sie die Straße überquert, sich beeilt, damit sie nicht zu spät kommt. Kenan wird seine Frau anschauen, dann
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