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Der Chancellor

Titel: Der Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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überlebt, – Falsten wird dieser Eine sein!

XXXVII.
    Vom 23. bis zum 31. December. –
    Nach dem Sturm hat der Wind sich nach Nordosten gewendet und zur günstigen Brise umgestaltet. Wir müssen ihn benutzen, da er uns nach dem Lande zu treiben verspricht.
    Den Mast hat Daoulas jetzt sorgfältig wieder hergestellt, das Segel wird gehißt und das Floß treibt mit einer Schnelligkeit von zwei bis zwei und ein halb Meilen in der Stunde weiter.
    Man hat auch versucht, mittels eines Pfahles und eines längs desselben aufgenagelten Brettes eine Art Steuer wieder herzustellen, das wohl oder übel seine Schuldigkeit thut. Bei der geringen Geschwindigkeit, die der Wind dem Flosse nur mittheilt, wird ihm eine größere Kraftäußerung auch nicht zugemuthet.
    Die Plattform ist mit Keilen und Stricken sogut als möglich wieder in Stand gesetzt worden. Die auseinander gewichenen Planken sind auf's Neue befestigt. Die Backbordschutzwände, welche der Sturm eingedrückt hatte, sind wieder hergestellt und leisten dem Eindringen der Wellen Widerstand. Mit einem Worte, alles nur irgend Mögliche, was diesem Bauwerke aus Maststücken und Segelstangen Festigkeit verleihen kann, ist geschehen; doch droht uns von dieser Seite die ärgste Gefahr ja nicht.
    Mit dem reinen Himmel hat sich auch jene tropische Hitze wieder eingestellt, von der wir schon während der vorhergehenden Tage so unsäglich zu leiden hatten. Gerade heute ist sie übrigens durch die Brise einigermaßen gemildert, und da auch das Zeltdach auf dem Hintertheile wieder in Ordnung gebracht ist, suchen und finden wir unter demselben noch weiteren Schutz.
    Inzwischen macht sich die Unzulänglichkeit unserer Nahrung ernsthafter fühlbar. Alle leiden sichtlich an Hunger, die Wangen sind hohl, die Gesichter klein geworden. Bei den Meisten scheint auch das Central-Nervensystem direct ergriffen, und erzeugt die Zusammenziehung des Magens eine schmerzhafte Empfindung. Hätten wir, um diesen Hunger zu täuschen oder einzuschläfern, ein Narcoticum, Opium oder nur Tabak, gewiß wäre er erträglicher, – aber uns fehlt ja Alles!
    Ein Einziger fühlt dieses gebieterische Bedürfniß weniger: es ist der Lieutenant Walter, der eine Beute des heftigsten Fiebers ist, das keinen Hunger in ihm aufkommen läßt, während ihn fortwährend ein brennender Durst quält. Miß Herbey, die sich von ihrer eigenen schmalen Wasserration etwas für den Kranken abdarbt, hat von dem Kapitän einekleine Zugabe erwirkt, und jede Viertelstunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des Lieutenants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit einem dankbaren Blicke. Der Aermste! Sein Urtheil ist gesprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu leiden haben!
    Uebrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn. Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen, und haucht mir in unterbrochener Rede zu:
    »Herr Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«
    So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter bemerkt es doch.
    »Die Wahrheit! fährt er fort. Bitte, die volle Wahrheit!
    – Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen ...
    – Das thut Nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte Sie! ...«
    Ich fasse den Kranken aufmerksam in's Auge, und lege mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offenbar functionirt der eine Lungenflügel gar nicht mehr und vermag der andere dem Athembedürfnisse nur noch mit genauer Noth zu entsprechen. Gleichzeitig leidet Walter an einem sehr heftigen Fieber, das bei tuberculösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu sein pflegt.
    Was kann ich auf die Frage des Lieutenants antworten?
    Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ichmir kaum zu helfen weiß, und ich suche nach einer ausweichenden Erwiderung.
    »Mein lieber Freund, sage ich, bei der Lage, in der wir uns befinden, kann überhaupt Niemand von sich sagen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht vor Ablauf einer Woche Alle, die das Floß jetzt trägt ...
    – Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Lieutenant, dessen brennender Blick auf mir haftet.
    Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlummern.
    Am 24., 25. und 26. December hat sich in unserer Situation nicht das Geringste geändert. So unglaublich es

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