Der Chinese
Pau…«
»Pauperismus«, unterbrach Studer.
»Exakt! Pauperismus! Und dabei ist doch das einzige, was man hier lernt: Schnapsen…«
Es lag etwas Quälendes in dieser einfachen Art des Erzählens und Studer hatte ein weiches Herz. Er fühlte, wie Schweißperlen ihm über die Wangen rannen und gab dem überhitzten Öfeli die Schuld. Einen Augenblick nur – dann wußte er, daß es die Geschichte des Ludwig war, die ihm Wasser in das Gesicht trieb. »Geht es noch lang?« fragte er heiser. »Ich mein', deine Geschichte.«
»Nein, Herr Studer…« – Was doch der Bursche für eine sanfte Stimme hatte! – »Ich möcht' Euch nur noch die Geschichte von der Barbara erzählen. Die Barbara hinkte. Sonst sah sie dem Huldi ähnlich. Auch so ein großes Gesicht, wißt Ihr und so eine blasse Hautfarbe und so lange braune Zöpfe. Die Barbara war auch im Armenhaus, ich traf sie nur am Sonntag, da gingen wir zusammen im Wald spazieren und sie erzählte mir von daheim, wo sie es auch nicht schön gehabt hatte. An einem Sonntagabend begegneten wir auf dem Heimweg einer Wärterin und da sagte die Barbara, jetzt wolle sie nicht mehr heimgehen in die Anstalt, denn alle würden sie sonst föppeln, weil sie mit mir gegangen sei. Ich versuchte sie zu beruhigen, aber es war alles umsonst… und Ihr wißt ja, es gibt ein Sprichwort: Man muß die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat. Wie ich gesehen hab , daß die Barbara nicht mehr in die Anstalt zurück will, sind wir zusammen fort. Es war 6 Uhr abends. Am 3. Juni. Ich weiß das noch so gut, weil wir das Auto des Hausvaters trafen, aber er erkannte uns nicht, sondern fuhr an uns vorbei. Wir wanderten und wanderten. Manchmal konnte die Barbara nicht laufen, dann trug ich sie… Wir kamen in den Jura, in den welschen, und da waren die Bauern besser. Ich fand Arbeit, denn auf den Bergen fängt der Heuet erst Mitte Juli an. Immer ging ich zuerst mich allein vorstellen, arbeitete einen Tag und erzählte dann, meine Frau sei bei mir. Da sagten manche von den Bauern, ich solle sie nur bringen, sie könne im Hause helfen… Die Barbara war ein schaffiges Meitschi und manchmal blieben wir acht Tage am gleichen Orte…
Aber wir hatten keine Papiere und ohne Papiere seid Ihr verkauft auf dieser Welt. Nicht auf die Menschen schaut man und ob sie schaffen und ob sie ehrlich sind, man schaut darauf, daß sie ein braunes Büechli haben mit Photi, mit Stempeln und Unterschriften…
Und der Herbst ist gekommen; – er kommt schnell in den Bergen. Da haben wir's so gemacht: Sobald die Weiden schnittreif waren, hab' ich sie gesammelt und wir flochten Körbe, die Barbara und ich, und verkauften sie in den Dörfern. Gewöhnlich ging ich, denn die Barbara konnte ja nicht laufen. Sie blieb daheim… daheim! Eine Holzfällerhütte mitten im Wald… Den Sommer hindurch haben wir gespart, so konnten wir Kessel anschaffen und Decken für den Winter; Holz hatten wir genug und ganz nah an unserer Hütte floß ein Bach vorbei. Die Hütte war immer sauber und wir haben gelebt, Herr Studer, wie Mann und Frau.
Aber im Horner ist die Barbara krank geworden – und die Krankheit hab' ich gekannt. Sie hat geschwitzt in der Nacht, sie hat gehustet und Blut gespuckt. Ich hab' sie gepflegt, so gut ich's konnte; wir haben auf Tannenkries geschlafen, aber es hat alles nichts genützt. Ende April ist sie dann gestorben.
Wohin hätt' ich gehen sollen? Es war mir alles verleidet! So hab ich mir gedacht: du gehst nach Pfründisberg zurück. Ich hab' mich nicht beeilt, hier und dort geschafft und so ist es Juli geworden. Am 18. Juli bin ich in Pfründisberg angekommen; es war morgens sechs Uhr, und der erste Mensch, den ich traf, war's Huldi. Hab' ich Euch erzählt, daß die Barbara eine Schulkameradin vom Huldi war? 's Huldi nahm mich auf, gab mir zu essen, lief dann zum Hausvater wegen mir und legte beim Hungerlott ein gutes Wort ein für mich. Der Hausvater hat getobt. Er hat gebrüllt, er avisiere die Polizei, ich gehöre nicht mehr nach Pfründisberg, ich gehöre an einen andern Ort, wo es strenger zugehe. Aber während er so im Hofe Krach schlug, kam plötzlich ein Herr dazu. Sein schneeweißer Schnurrbart verdeckte seine Mundwinkel und er erkundigte sich auf Schriftdeutsch, warum es hier solch einen Lärm gebe… »Der Farny, der Lump, der verdammte, der uns durchgebrannt ist, kommt einfach wieder zurück!« – »Farny?« fragt der alte Herr und dann fängt er an, mit mir zu sprechen. Da stellt es sich
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