Der Chinese
Berg…« An der Tür drehte sich der Wärter um und schrie in den Lärm: »Ordnung halten! Ordnung halten, bis ich zurück bin! Sonst gibt's Strafe.« Aber seine ermahnenden Worte gingen im Toben unter. Man hörte den Lärm der Unbeaufsichtigten durch die geschlossene Tür.
Gänge… Lange Gänge, bisweilen durchbrach ein Fenster die Mauern und man sah, wie dick die Wände gebaut waren. Stufen… Gänge… Winkel… in diesem Labyrinth hätte man sich ohne Führer unweigerlich verirrt.
Und dann gelangten die beiden in einen neuen Teil der Anstalt. Der Boden der Gänge war mit Inlaid ausgelegt, außerdem dämpften noch Kokosläufer das Geräusch der Schritte… Eine Türe. Unter dem Klingelzug ein Messingschild, worauf in verschnörkelten Buchstaben graviert stand: »Albert Hungerlott-Äbi, Hausvater«. Der Wärter zog den Klingelzug und es lag viel Respekt, viel Untertänigkeit in dieser einfachen Bewegung… In der Wohnung schlug eine Glocke an, ein Mädchen kam die Türe öffnen – sauber war es gekleidet; eine weiße Spitzenschürze hob sich von ihrem schwarzen Kleid ab. Atemlos stieß der Wärter hervor: »Der… Herr… Wachtmeister… Studer möchte gerne den Herr Direktor sprechen.« Die Jungfer verschwand und kam wieder mit dem Bescheid, der Wachtmeister möge näher treten. Der Wärter empfahl sich überhöflich und Studer fragte sich, was der Mann wohl auf dem Gewissen habe…
Aber es blieb ihm nicht Zeit zu langen Überlegungen, denn als er das Arbeitszimmer des Hausvaters Hungerlott betrat, wartete seiner eine Überraschung. Aus einem tiefen Lederfauteuil erhob sich ein Mann, den der Wachtmeister nicht erwartet hatte, hier zu finden. Sein Partner im Billardspiel war es: der Notar Münch. Er trug wie immer einen hohen Stehkragen und schraubte an seinem Hals. Hinter dem Schreibtisch saß Hungerlott, stand auf und sagte:
»Sehr freundlich von Ihnen, Herr Wachtmeister, mich besuchen zu kommen. Wie ich sehe, kennen Sie meinen Freund Münch…«
– Ja, ja, meinte Studer trocken, den Münch kenne er schon lange. Er wundere sich zwar, ihn hier zu finden.
»Das hat alles seine Gründe«, sagte Hungerlott belehrend. »Nicht wahr, Herr Wachtmeister, das hätten Sie sich auch nicht träumen lassen, vor vier Monaten, daß wir uns in so tragischen Umständen wiedertreffen?«
Studer war verlegen – und das war ein Gefühl, das er haßte. Man mußte doch diesem Hungerlott kondolieren, weil er seine Frau verloren hatte.
»Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, Herr Wachtmeister? Vielleicht gerade Ihrem Freunde Münch gegenüber? Vor dem Kamin? Sie müssen nämlich wissen, daß die Zentralheizung bei uns schlecht funktioniert… Darum lasse ich am Abend immer ein Feuerlein im Kamin anzünden… das gibt Wärme und Licht und Gemütlichkeit… nicht wahr, Münch?«
»Ich muß Ihnen noch«, sagte Studer, »zu dem schweren Verluste kondolieren, den Sie…« Weiter kam er nicht. Der Notar Münch aus Bern hatte einen Augenblick benützt, da der Hausvater mit dem Aussuchen der Getränke beschäftigt war. Und der Wachtmeister erhielt einen Tritt an das Schienbein, den er lautlos in Empfang nahm, über dessen Grund er sich jedoch nicht klar war.
»Ja«, sagte Herr Hungerlott, »es war ein schwerer Verlust! Und ein plötzlicher…«
»Und an was ist Frau Hungerlott…«
Wieder der Tritt an das Schienbein – ein Glück nur, daß der Wachtmeister Ledergamaschen angelegt hatte… Natürlich, es ging nicht gut an, den Freund und Notar zu fragen, warum er Fußtritte austeile – aber irgendeinen Grund mußte dies Verhalten wohl haben.
»Woran meine Frau gestorben ist, möchten Sie wissen? Es war eine bösartige Darmgrippe. Doktor Buff war sehr aufopfernd – aber er hat sie leider nicht retten können…«
Die Blicke des Notars waren beredt und Studer vermochte sie mühelos zu deuten… Sie drückten etwa aus: »Was hast du dich in diese Angelegenheit zu mischen? Was geht dich der Tod der Frau Hungerlott an? Oh, Studer!« sagten die Blicke. »Mußt du immer blöde Fragen stellen und dich blamieren?«
»Was trinken die Herren gerne?« fragte Herr Hungerlott, »Wein? Bier? Kognak?«
Der Notar Münch antwortete für seinen Freund Studer: »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Direktor, trinken wir beide ein wenig Kognak.«
In der Stille war deutlich das Herausziehen des Korkens zu hören. Glucksend floß der gelbe, scharf riechende Trank in die Gläser. – Warum mußte der Wachtmeister an die Kristallgläser denken, damals in
Weitere Kostenlose Bücher