Der Chinese
läutete Studer die Filiale dieses französischen Bankinstitutes in Bern an. Und da erlebte er eine Überraschung. Er hatte gefürchtet, er würde Schwierigkeiten haben – wegen des Bankgeheimnisses. Gerade das Gegenteil ereignete sich. Herr Farny habe Instruktionen hinterlassen: Anfragen der Polizei über sein Vermögen seien sogleich zu beantworten. Der Sicherheit halber – bitte man Herrn Studer, abzuhängen – man werde sogleich wieder anläuten. An seine Privatadresse? Jawohl… Dann: Das Depot bestehe aus 100 000 amerikanischen Dollars, 10 000 englischen Pfunden. Außerdem habe Herr Farny noch ein Safe gemietet, das Edelsteine enthalte. Diamanten, Smaragde, Rubine.
Vorsichtig und respektvoll legte Studer den Hörer wieder auf die Gabel. In einer Zeitung suchte er nach dem Stande der ausländischen Devisen… Das Pfund stand auf fünfzehn Komma null drei, der Dollar auf drei fünfundzwanzig… Allerhand! Der ›Chinese‹ hinterließ ein Vermögen von rund einer halben Million Schweizerfranken. Ohne den Inhalt des Safes, der ungefaßte Edelsteine enthielt…
Etwas wie Ekel stieg in Studers Hals auf. Plötzlich ging ihm dieser Fall auf die Nerven. Was?… Es handelte sich nur um eine simple Erbschaftsangelegenheit? Und wenn man den glücklichen Erben – besser: die glücklichen Erben – entdeckt hatte, dann kannte man den Schuldigen? Chabis! Dann – eben dann hatte man den Schuldigen noch lange nicht… Nein, der Fall wurde immer uninteressanter. Denn einem Menschen mit einem geringen Gehalt, dem es während seines Lebens nicht immer gut gegangen ist, macht es nie große Freude, für andere Leute ein Vermögen zu retten… Und schließlich – wer würde das Vermögen des ›Chinesen‹ nun einsacken?
Der Wachtmeister hockte auf dem Bett, und der trübe Tag draußen ließ nur eine matte Dämmerung ins Zimmer sickern. Studer ballte die Hand, hob seine Faust vor die Augen und reckte zuerst den Zeigefinger: »Erstens: die Schwester…« murmelte er. Der Mittelfinger schnellte auf: »Zweitens: ihr unehelicher Sohn – das Knechtlein…« Der Ringfinger kam an die Reihe: »Drittens – der Äbi Ernst, Gartenbauschüler. Viertens seine Schwester, die Frau des Hungerlott…« Studer starrte auf seine Hand, nur der Daumen haftete noch am Ballen… Nun schnellte dieser zur Seite und stand rechtwinklig zur Fläche.. . »Und der Gatte? Der Gatte der Tochter? Der Hausvater des Pauperismus? He? Und der Maurer Äbi… Die Finger langen nicht!«
»Köbi, woscht nit es Taßli Gaffee?« fragte Frau Hedwig unter der Tür.
»Nei!« fauchte der Wachtmeister wütend. Er ging zum Kleiderständer, zog Kittel und Mantel an, riß die Wohnungstür auf. Doch als er sie hinter sich zuschmettern wollte, ergriff ihn Reue. – Wahrscheinlich komme er erst am Sonntag zurück, sagte er leise und freundlich. – Es sei ein verteufelter Fall… Frau Studer nickte traurig… Am Sonntag? Heute war erst Donnerstag. »Leb wohl, Hedy…« Und der Wachtmeister schloß vorsichtig die Türe.
Er stieg auf sein Töff und fuhr in die Aarbergergasse 25; er wollte über den Lehrer Wottli Bescheid wissen, weil dieser Mann einmal ein Packpapier besessen hatte, an dem Arsenspuren nachzuweisen gewesen waren…
Die Dreizimmerwohnung lag im ersten Stock und war peinlich sauber. Eine Frau, die trotz ihrer weißen Haare noch jung schien (ihr Gesicht war faltenlos), schlurfte in Filzpantoffeln über das glänzende Parkett. Schon an der Türe begann sie zu sprechen, und nichts konnte diesen Redefluß dämmen. Sie bediente sich eines merkwürdigen Basler Dialekts, der mit bernischen Brocken gewürzt war – denn seit langem hatte sie wohl ihre Heimat verlassen. Sie rühmte ihren Sohn. – Was der für ein Kluger sei und ein Gescheiter… Oooh… Als einfacher Handlanger habe er in einer Gärtnerei angefangen – und nie eine Lehre durchgemacht, denn damals sei gerade der Vater gestorben und kein Geld im Haus gewesen. Jäjä… Mit sechzehn Jahren habe der Paul angefangen und dann alles gelernt, denn er habe oft die Stelle gewechselt. Zuerst Baumschule, dann Gemüse, dann Rosenkultur, endlich Landschaftsgärtnerei – ob der Herr Wachtmeister wisse, was das heiße, auf Landschaft arbeiten… ? Nicht… ? Nun, das sei die Anlage von neuen Gärten… Jojo… Pläne habe der Paul gemacht! Dann sei er nach Deutschland, in die Nähe von Berlin, um sich in der Staudenkultur auszubilden… Denn – nid woohr – in den neuen Gärten würden jetzt nicht mehr Rabatten
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