Der Chinese
sie sich am Strand, sangen »Der Osten ist rot«, verdammten in einer kurzen Ansprache das faschistische Schweden und forderten die sonnenbadenden Arbeiter auf, zu den Waffen zu greifen und sich auf die Revolution vorzubereiten, die unmittelbar bevorstand. Dann fuhren sie wieder nach Hause und verbrachten die folgenden Tage damit, den »Angriff« auf den Badestrand in Tylösand auszuwerten. »Woran erinnerst du dich?« fragte Karin.
»An Moses. Der behauptete, dass unser Einmarsch in Tylösand in die zukünftige revolutionäre Geschichte eingehen würde.«
»Ich kann mich nur daran erinnern, dass das Wasser so kalt war.«
»Aber ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich damals gedacht habe.«
»Wir haben nicht gedacht. Das war der Sinn des Ganzen. Wir sollten den Gedanken anderer gehorchen. Wir haben damals nicht begriffen, dass wir die Menschheit als Roboter befreien sollten.«
Karin schüttelte den Kopf und lachte los. »Wir waren wie ganz kleine Kinder. Mit einem großen Ernst. Wir behaupteten, der Marxismus sei eine Wissenschaft, genauso wahr wie etwas von Newton oder Kopernikus oder Einstein. Aber dennoch waren wir Gläubige. Maos kleines Rotes war unser Katechismus. Wir begriffen nicht, dass es keine Bibel war, mit der wir wedelten, sondern die Zitatensammlung eines großen Revolutionärs.«
»Ich kann mich erinnern, dass ich Zweifel hatte«, sagte Birgitta. »Ganz im Innersten. Genauso wie ich es einmal bei einem Besuch in Ostdeutschland erlebte. Ich dachte, dass dies alles absurd war, dass es so auf Dauer nicht funktionieren könnte. Aber ich sagte nichts. Ich fürchtete immer, dass meine Zweifel bemerkt würden. Deshalb rief ich die Slogans lauter als alle anderen.«
»Wir sahen nicht das, was wir sahen. Wir lebten in einem beispiellosen Selbstbetrug, obwohl ein guter Wille dahinterstand. Wie konnten wir glauben, dass sonnenbadende schwedische Arbeiter bereit wären, sich zu bewaffnen, um das bestehende System zu stürzen und etwas ›Neues und Unbekanntes‹ aufzubauen?«
Karin Wiman zündete sich eine Zigarette an. Birgitta Roslin dachte, dass sie immer geraucht hatte, ständig mit nervösen Händen mit Zigarettenpäckchen und Streichhölzern gefummelt hatte.
»Moses ist tot«, sagte Karin. »Ein Verkehrsunfall. Er stand unter Drogen. Erinnerst du dich an Lars Wester? Der behauptete, wahre Revolutionäre tränken niemals Alkohol? Den aber einer von uns später sturzbetrunken in Lundagärd fand? Und Lillan Alfredsson? Die alle Illusionen verlor und nach Indien fuhr, um Bettelnonne zu werden? Was ist aus ihr geworden?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie auch schon tot?«
»Aber wir leben.«
»Ja, wir leben.«
Sie redeten weiter bis in den Abend. Dann gingen sie nach draußen und machten einen Spaziergang durch die kleine Ortschaft. Birgitta spürte, dass Karin und sie das gleiche Bedürfnis hatten, sich in ihrem eigenen Leben rückwärtszubewegen, um ihre Gegenwart besser zu verstehen.
»Es war trotzdem nicht alles nur Naivität und Verrücktheit«, sagte Birgitta. »Der Gedanke an eine Welt, in der die Solidarität einen Wert darstellt, ist mir heute noch so lebendig wie damals. Ich versuche zu denken, dass wir uns immerhin aufgelehnt haben, dass wir Konventionen und Traditionen in Frage gestellt haben, die sonst unsere Welt noch rechtslastiger hätten werden lassen.«
»Ich habe aufgehört zu wählen«, sagte Karin. »Ich finde es nicht gut, dass es so gekommen ist. Aber ich sehe keine parteipolitische Wahrheit, die ich unterschreiben könnte. Dagegen versuche ich Bewegungen zu unterstützen, zu denen ich Vertrauen habe. Es gibt sie ja noch, genauso stark und unbändig. Was glaubst du, wie viele Menschen sich heutzutage für den Feudalismus in einem kleinen Land wie Nepal interessieren? Ich tue es. Ich unterschreibe Listen und spende Geld.«
»Ich weiß kaum, wo das liegt«, sagte Birgitta. »Ich gebe zu, dass ich bequem geworden bin. Aber ich sehne mich manchmal zurück nach dem guten Willen, der ja da war. Wir waren nicht nur ausgeflippte Studenten, die glaubten, sich im Mittelpunkt der Welt zu befinden, wo nichts unmöglich war. Die Solidarität war echt.«
Karin lachte auf. »Erinnerst du dich noch an Hanna Stoijkovics? Die verrückte Kellnerin im Grand in Lund, die der Meinung war, wir wären alle zu schlapp? Die uns ihre Taktik mit den sogenannten ›kleinen Mördern‹ predigte? Wir sollten Bankdirektoren,
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