Der Chinese
Wiman antwortete nicht. Birgitta Holm erkannte, dass sie schon wieder etwas Dummes gesagt hatte. Karins Mann war mit einundvierzig Jahren gestorben. Seitdem war sie Witwe.
Karin ahnte, was sie dachte. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf Birgittas Knie. »Das macht nichts.«
Sie redeten noch lange. Es war fast Mitternacht, als sie in ihre Zimmer gingen. Birgitta legte sich mit dem Handy im Schoß aufs Bett. Staffan würde gegen Mitternacht nach Hause kommen und sie anrufen.
Sie war fast eingeschlafen, als das Handy anfing zu vibrieren. »Habe ich dich geweckt?«
»Fast.«
»Hattest du es schön?«
»Wir haben zwölf Stunden ununterbrochen geredet.«
»Kommst du morgen nach Hause?«
»Ich schlafe mich aus. Dann fahr ich los.«
»Ich nehme an, du hast gehört, was passiert ist? Er hat erzählt, wie er es gemacht hat.« »Wer?« »Der Mann in Hudiksvall.« Sie setzte sich mit einem Ruck auf. »Ich weiß von nichts.
Erzähle!«
»Lars-Erik Valfridsson. Der festgenommen wurde. Im Moment sucht die Polizei nach der Tatwaffe. Er hat anscheinend erzählt, wo er sie vergraben hat. Ein selbstgeschmiedetes Samuraischwert, den Nachrichten zufolge.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Warum sollte ich dir etwas erzählen, was nicht stimmt?«
»So meine ich es nicht. Aber hat er erklärt, warum?«
»Keiner hat gesagt, dass es sich um etwas anderes handelte als Rache.«
Als das Gespräch vorüber war, blieb sie sitzen. Während des Tages, zusammen mit Karin Wiman, hatte sie überhaupt nicht an Hesjövallen gedacht. Jetzt kehrten die Ereignisse in ihr Bewusstsein zurück.
Vielleicht würde das rote Band eine Erklärung finden, die niemand, schon gar nicht sie selbst erwartet hatte. Warum konnte nicht auch Lars-Erik Valfridsson das Chinarestaurant besucht haben?
Sie kroch unter die Decke und löschte das Licht. Am nächsten Tag würde sie nach Hause fahren. Sie würde die Tagebücher an Vivi Sundberg zurückschicken und wieder zur Arbeit gehen.
Aber auf keinen Fall würde sie mit Karin nach China fahren. Obwohl sie das vielleicht am liebsten tun würde.
Als Birgitta Roslin am nächsten Morgen aufstand, war Karin Wiman schon nach Kopenhagen gefahren, weil sie eine Vorlesung hatte. Sie hatte eine Nachricht auf den Küchentisch gelegt.
Birgitta. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich einen Pfad im Kopf. Mit jedem Tag wird er ein paar Meter länger und dringt tiefer in eine unbekannte Landschaft ein, wo er einmal enden wird. Aber der Pfad windet sich auch zurück. Manchmal drehe ich mich um, wie gestern in all den Stunden, die wir im Gespräch miteinander verbracht haben, und dann sehe ich Dinge, die ich vergessen oder gegen die ich mich gewehrt habe, an die ich mich nicht erinnern wollte. Manchmal kommt es mir vor, als versuchten wir zu vergessen, statt uns zu erinnern. Ich möchte, dass wir unsere Gespräche weiterführen. Schließlich sind die Freunde das Einzige, was man hat. Anders gesagt, die letzte Bastion, die man zu verteidigen hat. Karin Birgitta Roslin stopfte den Brief in ihre Handtasche, trank eine Tasse Kaffee und machte sich bereit für die Abfahrt. Als sie die Haustür zuschlagen wollte, entdeckte sie Flugtickets auf einem Tisch im Flur. Karin würde mit Finnair über Helsinki nach Peking fliegen. Für einen kurzen Moment meldete sich wieder die Verlockung, Karins Angebot anzunehmen. Doch sie konnte nicht, selbst wenn sie gewollt hätte. Ihr Gerichtspräsident würde kaum Verständnis für einen Urlaubsantrag nach einer Krankschreibung aufbringen, zumal sich im Amtsgericht die unerledigten Fälle türmten.
Auf der Heimfahrt nahm sie den Weg über Helsingör. Während der Überfahrt wehte ein kräftiger Wind. Die Schlagzeilen der Zeitungen schrien Lars-Erik Valfridssons Geständnis heraus.
An einem Tabakladen hielt sie an, kaufte einen Packen Zeitungen und fuhr nach Hause. Im Flur traf sie ihre scheue und schweigsame polnische Putzhilfe an. Birgitta hatte vergessen, dass sie gerade heute putzte. Sie wechselten einige Worte auf Englisch, während Birgitta sie für ihre Arbeit bezahlte. Erst als sie allein war, schlug sie die Zeitungen auf. Wie so oft war sie verblüfft, wie viele Seiten die Zeitungen mit einem mehr als mageren Material zu füllen vermochten. Was Staffan am Vorabend in dem kurzen Telefonat gesagt hatte, deckte voll und ganz die Informationen, die die Zeitungen Seite um Seite wiederkäuten.
Das
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