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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Fähre nach Helsingör hinüber zu nehmen, fuhr sie nach Malmö und überquerte den Öresund auf der langen Brücke, über die sie erst einmal mit dem Bus gefahren war. Karin Wiman wohnte in Gentofte, nördlich von Kopenhagen. Birgitta Roslin verfuhr sich zweimal, bevor sie die richtige Umgehungsstraße fand. Dann nahm sie die Küstenstraße nach Norden. Es war kalt und windig, aber der Himmel war klar. Um elf hatte sie das schöne einstöckige Haus gefunden, in dem Karin wohnte. Sie hatte seit dem Beginn ihrer Ehe hier gewohnt, und ihr Mann war in diesem Haus gestorben. Es war weiß und von einem großen Garten umgeben. Birgitta Roslin erinnerte sich daran, dass man vom Obergeschoss aus jenseits der Hausdächer das Wasser sehen konnte.
     
    Karin Wiman kam ihr durchs Gartentor entgegen. Sie hatte abgenommen und war auch blasser, als Birgitta sie in Erinnerung hatte. Ihr erster Gedanke war, dass Karin krank war. Sie umarmten sich, gingen ins Haus, stellten die Tasche in das Zimmer, in dem Birgitta schlafen sollte, und machten einen Rundgang. Es hatte sich nicht viel verändert, seit Birgitta zuletzt hier gewesen war. Karin wollte es so lassen, wie es war, als ihr Mann noch lebte, dachte Birgitta. Was würde ich selbst tun? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Karin Wiman und sie waren sehr verschieden. Ihre unverbrüchliche Freundschaft hatte gerade auf dem großen Unterschied zwischen ihnen aufgebaut. Sie hatten Stoßdämpfer entwickelt, die die gelegentlichen Zusammenstöße sehr wohl auffingen. Karin hatte ein Mittagessen vorbereitet. Sie setzten sich in einen Wintergarten voller Pflanzen und Düfte. Nach den ersten tastenden Phrasen begannen sie fast sofort von ihrer Jugend in Lund zu sprechen. Karin, deren Eltern ein Gestüt in Schonen hatten, war 1966 nach Lund gekommen, Birgitta im Jahr danach. Sie waren sich bei einem Lyrikabend in der Akademischen Vereinigung begegnet und rasch Freundinnen geworden. Karin, mit ihrem familiären Hintergrund, hatte großes Selbstvertrauen. Birgitta dagegen war unsicher und auf der Suche gewesen.
     
    Sie waren in die Solidaritätsbewegung für Vietnam hineingezogen worden, saßen stumm wie die Mäuse da und lauschten, als vor allem die jungen Männer, die sich im Besitz großer Kenntnisse wähnten, lange und umständlich über die Notwendigkeit des Aufruhrs sprachen. Gleichzeitig wurden sie von dem phantastischen Gefühl übermannt, dass es möglich war, eine andere Wirklichkeit zu schaffen, ja dass sie selbst zu denen gehörten, die die Zukunft gestalteten. Und nicht nur die Pro-Vietnam-Bewegung wurde eine Schule der Organisation politischer Arbeit. Zahlreiche andere Gruppen brachten ihre Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt zum Ausdruck. Und für Schweden selbst galt das Gleiche. Es brodelte die Lust, aufzubegehren gegen alles Alte und Überholte: Es war eine Zeit, in der es wunderbar war zu leben.
     
    Beide hatten danach eine Zeitlang einer radikalen linken Gruppierung angehört, die sich »Die Rebellen« nannte. Während einiger hektischer Monate hatten sie ein sektenähnliches Dasein geführt, in dem brutale Selbstkritik und ein dogmatisches Vertrauen in Mao Tse-tungs Auslegungen der revolutionären Theorien die tragenden Säulen waren. Sie hatten sich von allen übrigen linken Alternativen abgeschirmt und sie mit Verachtung betrachtet. Sie hatten ihre Schallplatten mit klassischer Musik zerschlagen, ihre Bücherregale gesäubert und ein Leben geführt, das die rote Garde imitierte, die Mao in China mobilisiert hatte. Karin fragte, ob sie sich an die berühmt-berüchtigte Badereise nach Tylösand erinnerte.
     
    Birgitta erinnerte sich. Sie hatten ein Treffen ihrer Rebellenzelle gehabt. Genosse Moses Holm, der später Arzt wurde, aber seine Zulassung verlor, weil er selbst Drogen nahm und sie ungehemmt verschrieb, hatte den Vorschlag gemacht, das »bourgoise Schlangennest zu infiltrieren, das im Sommer in Tylösand badet und sich sonnt«.
     
    Es wurde nach langer Diskussion beschlossen, und eine Strategie wurde entwickelt. Am darauffolgenden Sonntag, einem Tag Anfang Juli, fuhren neunzehn Genossen in einem gemieteten Bus nach Halmstad und Tylösand. In Badeanzügen, mit einem Porträt von Mao an der Spitze und von roten Flaggen umgeben, marschierten sie an den verblüfften Menschen vorbei zum Strand. Sie skandierten Slogans, wedelten mit dem kleinen roten Zitatenbuch und schwammen anschließend mit Maos Bild hinaus aufs Wasser. Hinterher sammelten

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